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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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gewetzt, auch unter lauten Verwünschungen geschworen habe, den Ersten
Besten zu ermorden, weil er seines Lebens müde sei. Jeder habe sich daher
geflüchtet, und man habe nur gewünscht, daß ihm Niemand in den Wurf
kommen möge, als zum Schrecken Aller meine Mutter mit mir erschienen sei.
-- Kinder liefen bei solchen Gelegenheiten die größte Gefahr, weil es bei
dieser Art von Leuten ein allgemeiner Aberglaube war: es sei eine geringere
Sünde, ein Kind zu tödten, als einen Erwachsenen, denn Letzterer fahre in
seinen Sünden in die Verdammniß dahin, ohne Zeit zu haben, sich vorher
zu bekehren, während ein unschuldiges Kind sofort ein Engel werde und
selig sei." --

Dies waren die Verhältnisse, in denen Karl Friedrich von Klöden seine
ersten Eindrücke empfing, und immer drückender wurde die Lage seiner Eltern.
Der Vater ließ sich, durch den Spott seiner Kameraden gestachelt, verleiten,
im Jahr 1792 freiwillig als Lazareth - Commissarius mit nach Frankreich zu
ziehen. Er ward von den Franzosen gefangen genommen, und die Mutter
mit drei Kindern war einen Winter lang ohne Nachricht von ihm und ohne
Existenzmittel. Nach seiner Rückkehr zog er mit der Familie nach Preußisch-
Friedland, wo er als Accise-Aufseher angestellt worden war.

Hier nun beginnt der eigentliche, bewußte Entwicklungsgang des Knaben.
Von den ersten Lehranfängen bei der alten, 70-jährigen Schulmeisterin aM
Spinnrad, begleiten wir ihn in die höhere Schule zum Rektor, der "den
runden, kahlen Kopf mit einer weißen Zipfelmütze bedeckt, im weiten, klein¬
geblümten, kattunenen Schlafrock, der den starken Spitzbauch weit bedeckte,
und mit Pantoffeln an den Füßen wortlos Schule hielt. Jahr aus, Jahr
ein wurde aus der Bibel vorgelesen, und wenn die Offenbarung Johannis
"fertig" war, fing der Nächste ohne Pause wieder mit dem ersten Wort des
ersten Buches Mosis an.

Noch zeigt sich nichts von der großen vielseitigen Begabung des künf-
tigen Gelehrten, und die Art des Unterrichts ist nicht dazu angethan, die
schlummernde zu wecken. Ebensowenig that er sich anfangs in der Schule
zu Märkisch-Friedland hervor, in welche Stadt sein Vater als Thoreinnehmer
1796 übersiedelte, und es ist eigenthümlich, daß erst von einer Krankheit,
den Masern, sich das geistige Erwachen und der rastlose Lerneifer des Knaben
datiren. Viel, fast das Entscheidende, trug zu diesem Umschwung die Lektüre
von Campe's Robinson Crusoe bei: "Alle Erklärungen verschlang ich förmlich
und eignete sie mir auf das genaueste an, um so mehr als mir diese Art
von Belehrung völlig neu war; denn außer der mütterlichen hatte ich ja
niemals eine Erklärung erhalten. Die in den Gesprächen vorkommenden
Lehren der Sittlichkeit, des Verhaltens gegen das Lernen und gegen die
Menschen, kurz jede Maxime prägte ich mir um so tiefer ins Herz, als ich


gewetzt, auch unter lauten Verwünschungen geschworen habe, den Ersten
Besten zu ermorden, weil er seines Lebens müde sei. Jeder habe sich daher
geflüchtet, und man habe nur gewünscht, daß ihm Niemand in den Wurf
kommen möge, als zum Schrecken Aller meine Mutter mit mir erschienen sei.
— Kinder liefen bei solchen Gelegenheiten die größte Gefahr, weil es bei
dieser Art von Leuten ein allgemeiner Aberglaube war: es sei eine geringere
Sünde, ein Kind zu tödten, als einen Erwachsenen, denn Letzterer fahre in
seinen Sünden in die Verdammniß dahin, ohne Zeit zu haben, sich vorher
zu bekehren, während ein unschuldiges Kind sofort ein Engel werde und
selig sei." —

Dies waren die Verhältnisse, in denen Karl Friedrich von Klöden seine
ersten Eindrücke empfing, und immer drückender wurde die Lage seiner Eltern.
Der Vater ließ sich, durch den Spott seiner Kameraden gestachelt, verleiten,
im Jahr 1792 freiwillig als Lazareth - Commissarius mit nach Frankreich zu
ziehen. Er ward von den Franzosen gefangen genommen, und die Mutter
mit drei Kindern war einen Winter lang ohne Nachricht von ihm und ohne
Existenzmittel. Nach seiner Rückkehr zog er mit der Familie nach Preußisch-
Friedland, wo er als Accise-Aufseher angestellt worden war.

Hier nun beginnt der eigentliche, bewußte Entwicklungsgang des Knaben.
Von den ersten Lehranfängen bei der alten, 70-jährigen Schulmeisterin aM
Spinnrad, begleiten wir ihn in die höhere Schule zum Rektor, der „den
runden, kahlen Kopf mit einer weißen Zipfelmütze bedeckt, im weiten, klein¬
geblümten, kattunenen Schlafrock, der den starken Spitzbauch weit bedeckte,
und mit Pantoffeln an den Füßen wortlos Schule hielt. Jahr aus, Jahr
ein wurde aus der Bibel vorgelesen, und wenn die Offenbarung Johannis
„fertig" war, fing der Nächste ohne Pause wieder mit dem ersten Wort des
ersten Buches Mosis an.

Noch zeigt sich nichts von der großen vielseitigen Begabung des künf-
tigen Gelehrten, und die Art des Unterrichts ist nicht dazu angethan, die
schlummernde zu wecken. Ebensowenig that er sich anfangs in der Schule
zu Märkisch-Friedland hervor, in welche Stadt sein Vater als Thoreinnehmer
1796 übersiedelte, und es ist eigenthümlich, daß erst von einer Krankheit,
den Masern, sich das geistige Erwachen und der rastlose Lerneifer des Knaben
datiren. Viel, fast das Entscheidende, trug zu diesem Umschwung die Lektüre
von Campe's Robinson Crusoe bei: „Alle Erklärungen verschlang ich förmlich
und eignete sie mir auf das genaueste an, um so mehr als mir diese Art
von Belehrung völlig neu war; denn außer der mütterlichen hatte ich ja
niemals eine Erklärung erhalten. Die in den Gesprächen vorkommenden
Lehren der Sittlichkeit, des Verhaltens gegen das Lernen und gegen die
Menschen, kurz jede Maxime prägte ich mir um so tiefer ins Herz, als ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/56>, abgerufen am 27.07.2024.