Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

fromme Lieder singt und ihn lehrt, die Welt anzuschauen im Sinne des
Wortes, das er später so gerne gebraucht: "Groß sind die Werke des Herrn!
Wer ihrer achtet, hat eitel Lust daran."

Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diesem Werden des Charakters, diesem
Emporsteigen des Wissens zu folgen, das von Stufe zu Stufe, über die wider¬
wärtigsten Hindernisse zu freier wissenschaftlicher Arbeit und Forschung drängt.

Als Goldarbeiter kommt der Jüngling zu seinem Onkel nach Berlin und
wiederholt französische Vocabeln, während er in der dunkeln Küche mit unzu¬
reichenden Werkzeug die Handgriffe seiner Kunst lernt und zugleich das bro¬
delnde Mittagsessen auf dem Kochherde überwachen muß. Sonntags auf
dem Hausboden, wo sein Bett und seine Kiste neben dem aufsteigenden
Schornstein stehen, wo auf der einen Seite die Brennmaterialien des Haus¬
haltes liegen, auf der andern nasse Wäsche zum Trocknen hängt, treibt er
Algebra. Logik. Geschichte.

Hören wir, was er von seiner damaligen Lage erzählt:

"Unterdessen rückte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch
immer war ich Lehrbursche, Hausknecht, Bedienter, Dienstmädchen. Küchen¬
magd in einer Person. Als nun die Tage kalt wurden, konnte ich nicht
mehr auf meinem lieben Boden sitzen und verlor damit meine Sonntagser¬
holungen ; zudem mußte ich jetzt auch die Oefen heizen und Abends vorher
mir das Holz dazu besorgen und klein hacken, sowie den Torf und die Koh¬
len herbeischleppen. Ich durfte des Abends kein Licht auf den Boden nehmen,
sondern mußte mich im Finstern an- und auskleiden. Das hätte wenig ge¬
schadet, aber ich schlief nicht viel besser als im Freien. Wenn es schneite,
mußte ich den Schnee von Kopfkissen und Deckbette abschütteln; bei starker
Kälte fror das Bette vor meinem Munde steif. Das Schlimmste aber waren die
Zeiten, wo der ganze Boden voll nasser Wäsche hing, durch welche ich mich im
Finstern oft kaum hindurch finden konnte und dann während des Schlafes
von ihr rings dicht umgeben war. Bei nasser Witterung hing die Wäsche oft
wochenlang, ehe sie trocknete, und so lange hatte ich die Pein, so zu schlafen."

Wahrlich, es gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerschütterlicher
Lebensmuth dazu, aus solchen Verhältnissen sich empor zu arbeiten!

Wir folgen ihm in seinem Studium der französischen und italienischen
Sprache und Geometrie; in allen diesen Fächern, die er nur in den sehr
knapp gebotenen Mußestunden üben darf, kommt er rüstig vorwärts. Dann
thut er, durch seine Geschicklichkeit im Zeichnen ermuthigt, den ersten Schritt
zur Verbesserung seiner Lage und wird Graveur. Von da an geht es stetig
vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferstecher, und diese Beschäftigung
führt ihn zu dem Fach, in dem er so Großes leisten und Ruhm und Ehre
gewinnen sollte, zum Stechen geographischer Karten.


fromme Lieder singt und ihn lehrt, die Welt anzuschauen im Sinne des
Wortes, das er später so gerne gebraucht: „Groß sind die Werke des Herrn!
Wer ihrer achtet, hat eitel Lust daran."

Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diesem Werden des Charakters, diesem
Emporsteigen des Wissens zu folgen, das von Stufe zu Stufe, über die wider¬
wärtigsten Hindernisse zu freier wissenschaftlicher Arbeit und Forschung drängt.

Als Goldarbeiter kommt der Jüngling zu seinem Onkel nach Berlin und
wiederholt französische Vocabeln, während er in der dunkeln Küche mit unzu¬
reichenden Werkzeug die Handgriffe seiner Kunst lernt und zugleich das bro¬
delnde Mittagsessen auf dem Kochherde überwachen muß. Sonntags auf
dem Hausboden, wo sein Bett und seine Kiste neben dem aufsteigenden
Schornstein stehen, wo auf der einen Seite die Brennmaterialien des Haus¬
haltes liegen, auf der andern nasse Wäsche zum Trocknen hängt, treibt er
Algebra. Logik. Geschichte.

Hören wir, was er von seiner damaligen Lage erzählt:

„Unterdessen rückte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch
immer war ich Lehrbursche, Hausknecht, Bedienter, Dienstmädchen. Küchen¬
magd in einer Person. Als nun die Tage kalt wurden, konnte ich nicht
mehr auf meinem lieben Boden sitzen und verlor damit meine Sonntagser¬
holungen ; zudem mußte ich jetzt auch die Oefen heizen und Abends vorher
mir das Holz dazu besorgen und klein hacken, sowie den Torf und die Koh¬
len herbeischleppen. Ich durfte des Abends kein Licht auf den Boden nehmen,
sondern mußte mich im Finstern an- und auskleiden. Das hätte wenig ge¬
schadet, aber ich schlief nicht viel besser als im Freien. Wenn es schneite,
mußte ich den Schnee von Kopfkissen und Deckbette abschütteln; bei starker
Kälte fror das Bette vor meinem Munde steif. Das Schlimmste aber waren die
Zeiten, wo der ganze Boden voll nasser Wäsche hing, durch welche ich mich im
Finstern oft kaum hindurch finden konnte und dann während des Schlafes
von ihr rings dicht umgeben war. Bei nasser Witterung hing die Wäsche oft
wochenlang, ehe sie trocknete, und so lange hatte ich die Pein, so zu schlafen."

Wahrlich, es gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerschütterlicher
Lebensmuth dazu, aus solchen Verhältnissen sich empor zu arbeiten!

Wir folgen ihm in seinem Studium der französischen und italienischen
Sprache und Geometrie; in allen diesen Fächern, die er nur in den sehr
knapp gebotenen Mußestunden üben darf, kommt er rüstig vorwärts. Dann
thut er, durch seine Geschicklichkeit im Zeichnen ermuthigt, den ersten Schritt
zur Verbesserung seiner Lage und wird Graveur. Von da an geht es stetig
vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferstecher, und diese Beschäftigung
führt ihn zu dem Fach, in dem er so Großes leisten und Ruhm und Ehre
gewinnen sollte, zum Stechen geographischer Karten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132280"/>
          <p xml:id="ID_131" prev="#ID_130"> fromme Lieder singt und ihn lehrt, die Welt anzuschauen im Sinne des<lb/>
Wortes, das er später so gerne gebraucht: &#x201E;Groß sind die Werke des Herrn!<lb/>
Wer ihrer achtet, hat eitel Lust daran."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_132"> Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diesem Werden des Charakters, diesem<lb/>
Emporsteigen des Wissens zu folgen, das von Stufe zu Stufe, über die wider¬<lb/>
wärtigsten Hindernisse zu freier wissenschaftlicher Arbeit und Forschung drängt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_133"> Als Goldarbeiter kommt der Jüngling zu seinem Onkel nach Berlin und<lb/>
wiederholt französische Vocabeln, während er in der dunkeln Küche mit unzu¬<lb/>
reichenden Werkzeug die Handgriffe seiner Kunst lernt und zugleich das bro¬<lb/>
delnde Mittagsessen auf dem Kochherde überwachen muß. Sonntags auf<lb/>
dem Hausboden, wo sein Bett und seine Kiste neben dem aufsteigenden<lb/>
Schornstein stehen, wo auf der einen Seite die Brennmaterialien des Haus¬<lb/>
haltes liegen, auf der andern nasse Wäsche zum Trocknen hängt, treibt er<lb/>
Algebra. Logik. Geschichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_134"> Hören wir, was er von seiner damaligen Lage erzählt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_135"> &#x201E;Unterdessen rückte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch<lb/>
immer war ich Lehrbursche, Hausknecht, Bedienter, Dienstmädchen. Küchen¬<lb/>
magd in einer Person. Als nun die Tage kalt wurden, konnte ich nicht<lb/>
mehr auf meinem lieben Boden sitzen und verlor damit meine Sonntagser¬<lb/>
holungen ; zudem mußte ich jetzt auch die Oefen heizen und Abends vorher<lb/>
mir das Holz dazu besorgen und klein hacken, sowie den Torf und die Koh¬<lb/>
len herbeischleppen. Ich durfte des Abends kein Licht auf den Boden nehmen,<lb/>
sondern mußte mich im Finstern an- und auskleiden. Das hätte wenig ge¬<lb/>
schadet, aber ich schlief nicht viel besser als im Freien. Wenn es schneite,<lb/>
mußte ich den Schnee von Kopfkissen und Deckbette abschütteln; bei starker<lb/>
Kälte fror das Bette vor meinem Munde steif. Das Schlimmste aber waren die<lb/>
Zeiten, wo der ganze Boden voll nasser Wäsche hing, durch welche ich mich im<lb/>
Finstern oft kaum hindurch finden konnte und dann während des Schlafes<lb/>
von ihr rings dicht umgeben war. Bei nasser Witterung hing die Wäsche oft<lb/>
wochenlang, ehe sie trocknete, und so lange hatte ich die Pein, so zu schlafen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_136"> Wahrlich, es gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerschütterlicher<lb/>
Lebensmuth dazu, aus solchen Verhältnissen sich empor zu arbeiten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_137"> Wir folgen ihm in seinem Studium der französischen und italienischen<lb/>
Sprache und Geometrie; in allen diesen Fächern, die er nur in den sehr<lb/>
knapp gebotenen Mußestunden üben darf, kommt er rüstig vorwärts. Dann<lb/>
thut er, durch seine Geschicklichkeit im Zeichnen ermuthigt, den ersten Schritt<lb/>
zur Verbesserung seiner Lage und wird Graveur. Von da an geht es stetig<lb/>
vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferstecher, und diese Beschäftigung<lb/>
führt ihn zu dem Fach, in dem er so Großes leisten und Ruhm und Ehre<lb/>
gewinnen sollte, zum Stechen geographischer Karten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0058] fromme Lieder singt und ihn lehrt, die Welt anzuschauen im Sinne des Wortes, das er später so gerne gebraucht: „Groß sind die Werke des Herrn! Wer ihrer achtet, hat eitel Lust daran." Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diesem Werden des Charakters, diesem Emporsteigen des Wissens zu folgen, das von Stufe zu Stufe, über die wider¬ wärtigsten Hindernisse zu freier wissenschaftlicher Arbeit und Forschung drängt. Als Goldarbeiter kommt der Jüngling zu seinem Onkel nach Berlin und wiederholt französische Vocabeln, während er in der dunkeln Küche mit unzu¬ reichenden Werkzeug die Handgriffe seiner Kunst lernt und zugleich das bro¬ delnde Mittagsessen auf dem Kochherde überwachen muß. Sonntags auf dem Hausboden, wo sein Bett und seine Kiste neben dem aufsteigenden Schornstein stehen, wo auf der einen Seite die Brennmaterialien des Haus¬ haltes liegen, auf der andern nasse Wäsche zum Trocknen hängt, treibt er Algebra. Logik. Geschichte. Hören wir, was er von seiner damaligen Lage erzählt: „Unterdessen rückte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch immer war ich Lehrbursche, Hausknecht, Bedienter, Dienstmädchen. Küchen¬ magd in einer Person. Als nun die Tage kalt wurden, konnte ich nicht mehr auf meinem lieben Boden sitzen und verlor damit meine Sonntagser¬ holungen ; zudem mußte ich jetzt auch die Oefen heizen und Abends vorher mir das Holz dazu besorgen und klein hacken, sowie den Torf und die Koh¬ len herbeischleppen. Ich durfte des Abends kein Licht auf den Boden nehmen, sondern mußte mich im Finstern an- und auskleiden. Das hätte wenig ge¬ schadet, aber ich schlief nicht viel besser als im Freien. Wenn es schneite, mußte ich den Schnee von Kopfkissen und Deckbette abschütteln; bei starker Kälte fror das Bette vor meinem Munde steif. Das Schlimmste aber waren die Zeiten, wo der ganze Boden voll nasser Wäsche hing, durch welche ich mich im Finstern oft kaum hindurch finden konnte und dann während des Schlafes von ihr rings dicht umgeben war. Bei nasser Witterung hing die Wäsche oft wochenlang, ehe sie trocknete, und so lange hatte ich die Pein, so zu schlafen." Wahrlich, es gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerschütterlicher Lebensmuth dazu, aus solchen Verhältnissen sich empor zu arbeiten! Wir folgen ihm in seinem Studium der französischen und italienischen Sprache und Geometrie; in allen diesen Fächern, die er nur in den sehr knapp gebotenen Mußestunden üben darf, kommt er rüstig vorwärts. Dann thut er, durch seine Geschicklichkeit im Zeichnen ermuthigt, den ersten Schritt zur Verbesserung seiner Lage und wird Graveur. Von da an geht es stetig vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferstecher, und diese Beschäftigung führt ihn zu dem Fach, in dem er so Großes leisten und Ruhm und Ehre gewinnen sollte, zum Stechen geographischer Karten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/58
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/58>, abgerufen am 27.07.2024.