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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Der Gehalt der angeregten Frage ist höchst unbedeutend. Ihr Auf¬
treten entspringt lediglich der noch unreifen Bildung vieler unserer sonst
patriotischen Kreise. Man hat in früheren Verfassungsbildungen solche Pri¬
vilegien ausgesonnen, um die Landesvertreter vor chikanösen Unterbrechungen
ihrer Thätigkeit zu sichern. Was würde heute eine Regierung mit solchen
Chikanen ausrichten? Sie würde sich nur selbst verwunden. Dagegen ist es
eine unerträgliche Stellung für die Justiz, vor der Souveränität eines Wahl¬
kreises inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiesen für gut findet.
Am unerträglichsten aber ist es für den Reichstag, entweder verurtheilte
Verbrecher in seiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals
zu Gericht zu sitzen, um bald einmal die Zustimmung der Strafvollstreckung
zu gewähren, bald zu versagen. Der Reichstag ist nicht in der Lage, ein
System in diese Versagungen und Genehmigungen zu bringen und noch weni¬
ger ein solches System, dem eine sachliche Rechtfertigung zur Seite stehen
könnte. Er könnte mit diesem Privileg, wenn er es besäße, nur sich selbst
verwunden, und es zu erstreben, da er es nicht besitzt, sollte kein einsichtiger
Freund der parlamentarischen Institution dem Reichstag anrathen.

Der Unwille des Reichskanzlers erscheint namentlich durch die taktlose
Form der Resolution erklärlich. Man sollte denken, der Reichstag fühle seine
Würde durch die Anwesenheit eines Verurtheilten, wie Herr Majunke beein¬
trächtigt. Statt dessen wird erklärt, wenigstens imxliciw, die Anwesenheit
dieses wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten sei für die Würde
des Reichstags erforderlich. Die Sache M stark, wie man sie auch wenden
möge, und jemehr die Stellung des Reichskanzlers dahin geführt hat. daß
ihm eine zuverlässige Majorität im Reichstage nothwendig ist, desto schlimmer
ist es, wenn sich zeigt, daß bei der unwahrscheinlichsten Gelegenheit ein Theil
dieser Majorität durch unüberwindliche Neste demokratischer Doctrinen ab¬
gesprengt wird. Es war dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin
sehr starken Taktlosigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten
Partei zur Last fällt, der Kanzler von seiner unermeßlichen Aufgabe gerade
jetzt zurücktreten würde.

In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abstimmung über Hover-
beck's Resolutton wiederholt werden, weil sie am Vortage nicht gedruckt vor-
gelegen. Es ist sehr zu bedauern, daß eine namentliche Abstimmung aus
formellen Gründen nicht für zulässig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür
erachtet werden konnte. Die Resolution erhielt wiederum die Majorität, aber
eine solche, zu deren Feststellung es der Gegenprobe bedürfte. Die nament¬
liche Abstimmung wäre im hohen Grade erwünscht gewesen, sowohl für die


Der Gehalt der angeregten Frage ist höchst unbedeutend. Ihr Auf¬
treten entspringt lediglich der noch unreifen Bildung vieler unserer sonst
patriotischen Kreise. Man hat in früheren Verfassungsbildungen solche Pri¬
vilegien ausgesonnen, um die Landesvertreter vor chikanösen Unterbrechungen
ihrer Thätigkeit zu sichern. Was würde heute eine Regierung mit solchen
Chikanen ausrichten? Sie würde sich nur selbst verwunden. Dagegen ist es
eine unerträgliche Stellung für die Justiz, vor der Souveränität eines Wahl¬
kreises inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiesen für gut findet.
Am unerträglichsten aber ist es für den Reichstag, entweder verurtheilte
Verbrecher in seiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals
zu Gericht zu sitzen, um bald einmal die Zustimmung der Strafvollstreckung
zu gewähren, bald zu versagen. Der Reichstag ist nicht in der Lage, ein
System in diese Versagungen und Genehmigungen zu bringen und noch weni¬
ger ein solches System, dem eine sachliche Rechtfertigung zur Seite stehen
könnte. Er könnte mit diesem Privileg, wenn er es besäße, nur sich selbst
verwunden, und es zu erstreben, da er es nicht besitzt, sollte kein einsichtiger
Freund der parlamentarischen Institution dem Reichstag anrathen.

Der Unwille des Reichskanzlers erscheint namentlich durch die taktlose
Form der Resolution erklärlich. Man sollte denken, der Reichstag fühle seine
Würde durch die Anwesenheit eines Verurtheilten, wie Herr Majunke beein¬
trächtigt. Statt dessen wird erklärt, wenigstens imxliciw, die Anwesenheit
dieses wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten sei für die Würde
des Reichstags erforderlich. Die Sache M stark, wie man sie auch wenden
möge, und jemehr die Stellung des Reichskanzlers dahin geführt hat. daß
ihm eine zuverlässige Majorität im Reichstage nothwendig ist, desto schlimmer
ist es, wenn sich zeigt, daß bei der unwahrscheinlichsten Gelegenheit ein Theil
dieser Majorität durch unüberwindliche Neste demokratischer Doctrinen ab¬
gesprengt wird. Es war dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin
sehr starken Taktlosigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten
Partei zur Last fällt, der Kanzler von seiner unermeßlichen Aufgabe gerade
jetzt zurücktreten würde.

In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abstimmung über Hover-
beck's Resolutton wiederholt werden, weil sie am Vortage nicht gedruckt vor-
gelegen. Es ist sehr zu bedauern, daß eine namentliche Abstimmung aus
formellen Gründen nicht für zulässig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür
erachtet werden konnte. Die Resolution erhielt wiederum die Majorität, aber
eine solche, zu deren Feststellung es der Gegenprobe bedürfte. Die nament¬
liche Abstimmung wäre im hohen Grade erwünscht gewesen, sowohl für die


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[0521] Der Gehalt der angeregten Frage ist höchst unbedeutend. Ihr Auf¬ treten entspringt lediglich der noch unreifen Bildung vieler unserer sonst patriotischen Kreise. Man hat in früheren Verfassungsbildungen solche Pri¬ vilegien ausgesonnen, um die Landesvertreter vor chikanösen Unterbrechungen ihrer Thätigkeit zu sichern. Was würde heute eine Regierung mit solchen Chikanen ausrichten? Sie würde sich nur selbst verwunden. Dagegen ist es eine unerträgliche Stellung für die Justiz, vor der Souveränität eines Wahl¬ kreises inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiesen für gut findet. Am unerträglichsten aber ist es für den Reichstag, entweder verurtheilte Verbrecher in seiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals zu Gericht zu sitzen, um bald einmal die Zustimmung der Strafvollstreckung zu gewähren, bald zu versagen. Der Reichstag ist nicht in der Lage, ein System in diese Versagungen und Genehmigungen zu bringen und noch weni¬ ger ein solches System, dem eine sachliche Rechtfertigung zur Seite stehen könnte. Er könnte mit diesem Privileg, wenn er es besäße, nur sich selbst verwunden, und es zu erstreben, da er es nicht besitzt, sollte kein einsichtiger Freund der parlamentarischen Institution dem Reichstag anrathen. Der Unwille des Reichskanzlers erscheint namentlich durch die taktlose Form der Resolution erklärlich. Man sollte denken, der Reichstag fühle seine Würde durch die Anwesenheit eines Verurtheilten, wie Herr Majunke beein¬ trächtigt. Statt dessen wird erklärt, wenigstens imxliciw, die Anwesenheit dieses wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten sei für die Würde des Reichstags erforderlich. Die Sache M stark, wie man sie auch wenden möge, und jemehr die Stellung des Reichskanzlers dahin geführt hat. daß ihm eine zuverlässige Majorität im Reichstage nothwendig ist, desto schlimmer ist es, wenn sich zeigt, daß bei der unwahrscheinlichsten Gelegenheit ein Theil dieser Majorität durch unüberwindliche Neste demokratischer Doctrinen ab¬ gesprengt wird. Es war dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin sehr starken Taktlosigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten Partei zur Last fällt, der Kanzler von seiner unermeßlichen Aufgabe gerade jetzt zurücktreten würde. In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abstimmung über Hover- beck's Resolutton wiederholt werden, weil sie am Vortage nicht gedruckt vor- gelegen. Es ist sehr zu bedauern, daß eine namentliche Abstimmung aus formellen Gründen nicht für zulässig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür erachtet werden konnte. Die Resolution erhielt wiederum die Majorität, aber eine solche, zu deren Feststellung es der Gegenprobe bedürfte. Die nament¬ liche Abstimmung wäre im hohen Grade erwünscht gewesen, sowohl für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/521>, abgerufen am 29.12.2024.