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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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eingeschlichen, den wir um so ernstlicher rügen müssen, als er eine weite Ver¬
breitung gefunden zu haben scheint. Der Verfasser meint, daß sich das pres"
byterial-synodale System vorzugsweise bei den Reformirten in der Schweiz ent¬
wickelt habe. Das ist falsch. Das genannte System ist allerdings auf reformir-
ten Boden entsprossen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver-
fassung hat einen ebenso territorialistischen Charakter getragen, wie die lutherische
Deutschlands. Richtig ist, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfassung
entwickelt hat, aber verwirklicht wurden sie weder in Genf noch in Zürich.

Mit dem zehnten Abschnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche sich
auf die einzelnen Gegenstände der Neligionspolitik bezieht. Zuerst wird das
geistliche Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfasser besser gethan
haben, statt fast alle Maigesetze abdrucken zu lassen, näher, als es geschehen
ist, auf dieselben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der
neuen kirchenpolitischen Gesetzgebung Preußens und er ist prinzipiell mit allen
ihren Bestandtheilen in Uebereinstimmung. Eben deshalb hält er sich für
befugt, in diesen Blättern, einen Dissensus bei dieser Gelegenheit zur Sprache
zu bringen, der nicht sowohl das Prinzip, als die Ausgestaltung desselben
trifft. Wir haben das Staatsexamen der Theologen vor Augen. Es kann
keinem Zweifel unterworfen sein, daß von einem Manne, der, wie der Geist¬
liche zu einer so tiefgreifenden Wirksamkeit auf das Volksleben berufen ist,
ein hohes Maß allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der
Staat berechtigt ist, die Aneignung derselben zu verlangen. Aber auf welchem
Wege ist dies Ziel zu erreichen. Wir schließen die Philosophie- aus dem
Kreise unserer Erwägungen aus, weil sie schon längst Gegenstand der theo¬
logischen Prüfungen geworden ist, uno berücksichtigen nur die Geschichte, und
die deutsche Literaturgeschichte. Und hier scheint es unmöglich, daß der
theologische Kandidat im Großen und Ganzen am Schlüsse des Trienniums")
über eine größere Summe von Kenntnissen verfüge, als ihm beim Abi¬
turientenexamen eigen gewesen ist. Ja noch mehr, es muß sich die Summe
vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den
Fleiß ohne Vernachlässigung des Berufsstudiums auf die genannten Objekte
wenden kann, die er als Gymnasiast ihnen widmen konnte. Wozu also eine
Repetition des Abiturientenexamens fordern, die nothwendig nur dürftige
Resultate konstatirt. Man erwäge den Umfang des Gebiets beider Wissen¬
schaften: Oder sollen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatsachen treten
und das Examen sich auf eine Philosophie der Geschichte beziehen? Davor
wüssen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz
s'es wünschen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrasen decken. Aber was



") Warum müssen aber gerade die Theologen allein nur drei Jahre studiren?
Die Red.

eingeschlichen, den wir um so ernstlicher rügen müssen, als er eine weite Ver¬
breitung gefunden zu haben scheint. Der Verfasser meint, daß sich das pres«
byterial-synodale System vorzugsweise bei den Reformirten in der Schweiz ent¬
wickelt habe. Das ist falsch. Das genannte System ist allerdings auf reformir-
ten Boden entsprossen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver-
fassung hat einen ebenso territorialistischen Charakter getragen, wie die lutherische
Deutschlands. Richtig ist, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfassung
entwickelt hat, aber verwirklicht wurden sie weder in Genf noch in Zürich.

Mit dem zehnten Abschnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche sich
auf die einzelnen Gegenstände der Neligionspolitik bezieht. Zuerst wird das
geistliche Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfasser besser gethan
haben, statt fast alle Maigesetze abdrucken zu lassen, näher, als es geschehen
ist, auf dieselben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der
neuen kirchenpolitischen Gesetzgebung Preußens und er ist prinzipiell mit allen
ihren Bestandtheilen in Uebereinstimmung. Eben deshalb hält er sich für
befugt, in diesen Blättern, einen Dissensus bei dieser Gelegenheit zur Sprache
zu bringen, der nicht sowohl das Prinzip, als die Ausgestaltung desselben
trifft. Wir haben das Staatsexamen der Theologen vor Augen. Es kann
keinem Zweifel unterworfen sein, daß von einem Manne, der, wie der Geist¬
liche zu einer so tiefgreifenden Wirksamkeit auf das Volksleben berufen ist,
ein hohes Maß allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der
Staat berechtigt ist, die Aneignung derselben zu verlangen. Aber auf welchem
Wege ist dies Ziel zu erreichen. Wir schließen die Philosophie- aus dem
Kreise unserer Erwägungen aus, weil sie schon längst Gegenstand der theo¬
logischen Prüfungen geworden ist, uno berücksichtigen nur die Geschichte, und
die deutsche Literaturgeschichte. Und hier scheint es unmöglich, daß der
theologische Kandidat im Großen und Ganzen am Schlüsse des Trienniums")
über eine größere Summe von Kenntnissen verfüge, als ihm beim Abi¬
turientenexamen eigen gewesen ist. Ja noch mehr, es muß sich die Summe
vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den
Fleiß ohne Vernachlässigung des Berufsstudiums auf die genannten Objekte
wenden kann, die er als Gymnasiast ihnen widmen konnte. Wozu also eine
Repetition des Abiturientenexamens fordern, die nothwendig nur dürftige
Resultate konstatirt. Man erwäge den Umfang des Gebiets beider Wissen¬
schaften: Oder sollen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatsachen treten
und das Examen sich auf eine Philosophie der Geschichte beziehen? Davor
wüssen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz
s'es wünschen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrasen decken. Aber was



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[0049] eingeschlichen, den wir um so ernstlicher rügen müssen, als er eine weite Ver¬ breitung gefunden zu haben scheint. Der Verfasser meint, daß sich das pres« byterial-synodale System vorzugsweise bei den Reformirten in der Schweiz ent¬ wickelt habe. Das ist falsch. Das genannte System ist allerdings auf reformir- ten Boden entsprossen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver- fassung hat einen ebenso territorialistischen Charakter getragen, wie die lutherische Deutschlands. Richtig ist, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfassung entwickelt hat, aber verwirklicht wurden sie weder in Genf noch in Zürich. Mit dem zehnten Abschnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche sich auf die einzelnen Gegenstände der Neligionspolitik bezieht. Zuerst wird das geistliche Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfasser besser gethan haben, statt fast alle Maigesetze abdrucken zu lassen, näher, als es geschehen ist, auf dieselben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der neuen kirchenpolitischen Gesetzgebung Preußens und er ist prinzipiell mit allen ihren Bestandtheilen in Uebereinstimmung. Eben deshalb hält er sich für befugt, in diesen Blättern, einen Dissensus bei dieser Gelegenheit zur Sprache zu bringen, der nicht sowohl das Prinzip, als die Ausgestaltung desselben trifft. Wir haben das Staatsexamen der Theologen vor Augen. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, daß von einem Manne, der, wie der Geist¬ liche zu einer so tiefgreifenden Wirksamkeit auf das Volksleben berufen ist, ein hohes Maß allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der Staat berechtigt ist, die Aneignung derselben zu verlangen. Aber auf welchem Wege ist dies Ziel zu erreichen. Wir schließen die Philosophie- aus dem Kreise unserer Erwägungen aus, weil sie schon längst Gegenstand der theo¬ logischen Prüfungen geworden ist, uno berücksichtigen nur die Geschichte, und die deutsche Literaturgeschichte. Und hier scheint es unmöglich, daß der theologische Kandidat im Großen und Ganzen am Schlüsse des Trienniums") über eine größere Summe von Kenntnissen verfüge, als ihm beim Abi¬ turientenexamen eigen gewesen ist. Ja noch mehr, es muß sich die Summe vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den Fleiß ohne Vernachlässigung des Berufsstudiums auf die genannten Objekte wenden kann, die er als Gymnasiast ihnen widmen konnte. Wozu also eine Repetition des Abiturientenexamens fordern, die nothwendig nur dürftige Resultate konstatirt. Man erwäge den Umfang des Gebiets beider Wissen¬ schaften: Oder sollen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatsachen treten und das Examen sich auf eine Philosophie der Geschichte beziehen? Davor wüssen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz s'es wünschen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrasen decken. Aber was ") Warum müssen aber gerade die Theologen allein nur drei Jahre studiren? Die Red.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/49>, abgerufen am 27.07.2024.