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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Deutschland lebhaft begonnen und weite Kreise in sein Gebiet gezogen. Die
Vertreter desselben haben sich namentlich in einem "Protestantenvereine" ver¬
bunden und das Verdienst erworben, sei es auch auf radicalen Boden, die
Mängel im Bestehenden ohne Rückhalt aufgedeckt und den Wunsch zum Bessern
nach Innen und nach Außen rege erhalten zu haben; aber weiter reicht das
Verdienst bis jetzt nicht. Von einem Ersatz der oft mit Verläugnung allge¬
meiner Toleranz angegriffnen orthodoxen Glaubensrichtungen durch Ausstellung
eines Bekenntnisses ist in der bisherigen Wirksamkeit des Protestantenvereins
nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne schöpferische Kraft ist aber
weder dem religiösen Gefühle noch dem religiösen Gesellschaflsverbande gedient;
eine Kirche ohne alle Bekenntnißschrift, wie sie der Agitation vorzuschweben
scheint, ist unausführbar und ohne Bestand. -- Aus diesen Gründen kann
der Protestantenverein, ungeachtet seines an sich berechtigten Thuns und
Wirkens innerhalb der Religionsgesellschaft, keinen Anspruch daraus machen,
in der äußern Organisation derselben als ein irgendwie maßgebender
Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhalts¬
punkt." Wir rechnen hierhin ferner die besonnene Beurtheilung des co. Ober¬
kirchenraths in Preußen: "Die Bildung des Oberkirchenraths war der nach
unserer Auffassung im Princip ganz richtige und gebotene erste Schritt zur
kirchlichen Selbständigkeit. Wir stehen nicht auf dem Boden seiner vielseitigen
Anfeindung, deren Ursprung großentheils in religiösem Liberalismus wurzelt,
und deren thatsächliche Begründung wir nur im geringsten Theile, hauptsäch¬
lich in der Richtung anerkennen, daß seine unleugbaren wiederholten Bestre¬
bungen zur einigenden selbständigen Kirchenreform in den Hauptresultaten
erfolglos gewesen sind ; -- aber zur Milderung auch dieses Vorwurfs gestehen
wir, daß uns der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke
besser und fruchtbarer gewesen wären. Die aus jener Feindseligkeit wieder¬
holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf seine Abschaffung halten wir
im Interesse der Kirche für ebenso unpolitische als unreife und in ihren Wir¬
kungen unüberlegte Tendenzen."*) Wir billigen endlich vollkommen, daß der
Verfasser mit Entschiedenheit die schleunigste Vollziehung der Auseinander¬
setzung zwischen Kirche und Staat fordert und mit Recht denen, welche den
geeignetsten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: "wann wird
der geeignete Standpunkt da sein? sind die Verhältnisse des evangelisch-kirch¬
lichen Gesammtlebens dazu angethan, seine Annäherung sicher zu hoffen? --
und wird durch dessen weiteres Abwarten etwas gewonnen? -- wir antwor¬
ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer,
sondern steigen mit jedem Tage." **)

Leider hat sich in diesen so trefflichen Abschnitt ein historischer Irrthum




") S. 114--ö.
*) S. 120.

Deutschland lebhaft begonnen und weite Kreise in sein Gebiet gezogen. Die
Vertreter desselben haben sich namentlich in einem „Protestantenvereine" ver¬
bunden und das Verdienst erworben, sei es auch auf radicalen Boden, die
Mängel im Bestehenden ohne Rückhalt aufgedeckt und den Wunsch zum Bessern
nach Innen und nach Außen rege erhalten zu haben; aber weiter reicht das
Verdienst bis jetzt nicht. Von einem Ersatz der oft mit Verläugnung allge¬
meiner Toleranz angegriffnen orthodoxen Glaubensrichtungen durch Ausstellung
eines Bekenntnisses ist in der bisherigen Wirksamkeit des Protestantenvereins
nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne schöpferische Kraft ist aber
weder dem religiösen Gefühle noch dem religiösen Gesellschaflsverbande gedient;
eine Kirche ohne alle Bekenntnißschrift, wie sie der Agitation vorzuschweben
scheint, ist unausführbar und ohne Bestand. — Aus diesen Gründen kann
der Protestantenverein, ungeachtet seines an sich berechtigten Thuns und
Wirkens innerhalb der Religionsgesellschaft, keinen Anspruch daraus machen,
in der äußern Organisation derselben als ein irgendwie maßgebender
Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhalts¬
punkt." Wir rechnen hierhin ferner die besonnene Beurtheilung des co. Ober¬
kirchenraths in Preußen: „Die Bildung des Oberkirchenraths war der nach
unserer Auffassung im Princip ganz richtige und gebotene erste Schritt zur
kirchlichen Selbständigkeit. Wir stehen nicht auf dem Boden seiner vielseitigen
Anfeindung, deren Ursprung großentheils in religiösem Liberalismus wurzelt,
und deren thatsächliche Begründung wir nur im geringsten Theile, hauptsäch¬
lich in der Richtung anerkennen, daß seine unleugbaren wiederholten Bestre¬
bungen zur einigenden selbständigen Kirchenreform in den Hauptresultaten
erfolglos gewesen sind ; — aber zur Milderung auch dieses Vorwurfs gestehen
wir, daß uns der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke
besser und fruchtbarer gewesen wären. Die aus jener Feindseligkeit wieder¬
holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf seine Abschaffung halten wir
im Interesse der Kirche für ebenso unpolitische als unreife und in ihren Wir¬
kungen unüberlegte Tendenzen."*) Wir billigen endlich vollkommen, daß der
Verfasser mit Entschiedenheit die schleunigste Vollziehung der Auseinander¬
setzung zwischen Kirche und Staat fordert und mit Recht denen, welche den
geeignetsten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: „wann wird
der geeignete Standpunkt da sein? sind die Verhältnisse des evangelisch-kirch¬
lichen Gesammtlebens dazu angethan, seine Annäherung sicher zu hoffen? —
und wird durch dessen weiteres Abwarten etwas gewonnen? — wir antwor¬
ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer,
sondern steigen mit jedem Tage." **)

Leider hat sich in diesen so trefflichen Abschnitt ein historischer Irrthum




") S. 114—ö.
*) S. 120.
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[0048] Deutschland lebhaft begonnen und weite Kreise in sein Gebiet gezogen. Die Vertreter desselben haben sich namentlich in einem „Protestantenvereine" ver¬ bunden und das Verdienst erworben, sei es auch auf radicalen Boden, die Mängel im Bestehenden ohne Rückhalt aufgedeckt und den Wunsch zum Bessern nach Innen und nach Außen rege erhalten zu haben; aber weiter reicht das Verdienst bis jetzt nicht. Von einem Ersatz der oft mit Verläugnung allge¬ meiner Toleranz angegriffnen orthodoxen Glaubensrichtungen durch Ausstellung eines Bekenntnisses ist in der bisherigen Wirksamkeit des Protestantenvereins nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne schöpferische Kraft ist aber weder dem religiösen Gefühle noch dem religiösen Gesellschaflsverbande gedient; eine Kirche ohne alle Bekenntnißschrift, wie sie der Agitation vorzuschweben scheint, ist unausführbar und ohne Bestand. — Aus diesen Gründen kann der Protestantenverein, ungeachtet seines an sich berechtigten Thuns und Wirkens innerhalb der Religionsgesellschaft, keinen Anspruch daraus machen, in der äußern Organisation derselben als ein irgendwie maßgebender Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhalts¬ punkt." Wir rechnen hierhin ferner die besonnene Beurtheilung des co. Ober¬ kirchenraths in Preußen: „Die Bildung des Oberkirchenraths war der nach unserer Auffassung im Princip ganz richtige und gebotene erste Schritt zur kirchlichen Selbständigkeit. Wir stehen nicht auf dem Boden seiner vielseitigen Anfeindung, deren Ursprung großentheils in religiösem Liberalismus wurzelt, und deren thatsächliche Begründung wir nur im geringsten Theile, hauptsäch¬ lich in der Richtung anerkennen, daß seine unleugbaren wiederholten Bestre¬ bungen zur einigenden selbständigen Kirchenreform in den Hauptresultaten erfolglos gewesen sind ; — aber zur Milderung auch dieses Vorwurfs gestehen wir, daß uns der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke besser und fruchtbarer gewesen wären. Die aus jener Feindseligkeit wieder¬ holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf seine Abschaffung halten wir im Interesse der Kirche für ebenso unpolitische als unreife und in ihren Wir¬ kungen unüberlegte Tendenzen."*) Wir billigen endlich vollkommen, daß der Verfasser mit Entschiedenheit die schleunigste Vollziehung der Auseinander¬ setzung zwischen Kirche und Staat fordert und mit Recht denen, welche den geeignetsten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: „wann wird der geeignete Standpunkt da sein? sind die Verhältnisse des evangelisch-kirch¬ lichen Gesammtlebens dazu angethan, seine Annäherung sicher zu hoffen? — und wird durch dessen weiteres Abwarten etwas gewonnen? — wir antwor¬ ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer, sondern steigen mit jedem Tage." **) Leider hat sich in diesen so trefflichen Abschnitt ein historischer Irrthum ") S. 114—ö. *) S. 120.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/48>, abgerufen am 28.12.2024.