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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Auch seine Verehrer (und wir bekennen uns hiemit öffentlich zu diesen)
können den derben, oft verletzenden Realismus aus Gotthelf's Werken nicht
hinweg läugnen, aber wenn seine Erzählungen uns Verhältnisse und Menschen
vorführen, die in ihrer rohen Natürlichkeit namentlich das verfeinerte Gefühl
des Städters beleidigen, so liegt dies an dem Volk, das er schildert und nicht
an dem Dichter.

Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab¬
wälzten auf den anziehenden Feind, fassen auch heute noch weder das Leben,
noch ihre Gegner mit Glace"-Handschuhen an. oder, um die engere Hetmath
der Gotthelf'schen Gestalten nicht zu verlassen, die Söhne jener Männer und
Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Sensen. Dreschflegeln,
Heugabeln bewaffnet, sich der "großen Nation" entgegen werfen und im ver¬
zweifelten Einzelkampf den Aposteln der Civilisation unterliegen, sind auch
heute noch durchaus unschuldig an Europens übertünchter Höflichkeit.

Mit Entschiedenheit aber müssen wir den Vorwurf zurückweisen, daß
Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen dieses Volksgeistes schildert.
Gerade durch Gotthelf mag der Deutsche den festen, gesunden Kern erfassen
lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen
Heerstraße des alljährlichen Fremdenzuges in Hotels. Pensionen, bet Fremden¬
führern und Spekulanten nicht oder sehr selten zu finden ist.

Die innere Tüchtigkeit des Schweizer Landvolks, seinen urgesunden
Humor, sein treues Zusammenhalten und Sichgegenseittgaushelfen weiß gerade
Gotthelf zu schildern wie kein Andrer und in der durchaus urwüchsigen Um¬
gebung weiß doch auch Gotthelf liebliche und sinnige Gestalten erstehen zu
lassen, die fast fremdartig aus dem rauhen Rahmen sich abheben (Erdbeeri-
Mareili, Anneli in der Käserei auf der Vehfreude u. s. w.), oder die durch ihre
Fülle von schlichter Liebeskraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor¬
heben zu ihrer unbewußten Größe.

Solch eine Gestalt ist Kathi, die Großmutter, die arme, alte Frau die
um 7V-" Thaler halbjährliche Zinsen sich Monate hindurch abquält, und die
verzweifelnd dem Winter entgegenblickt, da die Kartoffeln mißrathen.

Diese Kathi ist nicht nur die Insassin ihres Heimathsdorfes. In ihrem
aufopfernden, mütterlichen Wirken, in ihrer so durchaus unpädagogischen und
in ihrer Lebenswahrheit so rührend geschilderten Erziehung oder vielmehr
Verziehung ihres Enkels ist sie das prächtigste Urbild aller prächtigen Gro߬
mütter, "so weit die deutsche Zunge klingt".

Die Verlagshandlung von Julius Springer bietet diese einzelne Er¬
zählung in neuer, wohlfeiler Ausgabe, so recht als ein Volksbuch dem Volke.
Und zwar sind im Auftrag des Unternehmers all die eingestreuten, politischen
Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung geschrieben


Auch seine Verehrer (und wir bekennen uns hiemit öffentlich zu diesen)
können den derben, oft verletzenden Realismus aus Gotthelf's Werken nicht
hinweg läugnen, aber wenn seine Erzählungen uns Verhältnisse und Menschen
vorführen, die in ihrer rohen Natürlichkeit namentlich das verfeinerte Gefühl
des Städters beleidigen, so liegt dies an dem Volk, das er schildert und nicht
an dem Dichter.

Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab¬
wälzten auf den anziehenden Feind, fassen auch heute noch weder das Leben,
noch ihre Gegner mit Glace"-Handschuhen an. oder, um die engere Hetmath
der Gotthelf'schen Gestalten nicht zu verlassen, die Söhne jener Männer und
Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Sensen. Dreschflegeln,
Heugabeln bewaffnet, sich der „großen Nation" entgegen werfen und im ver¬
zweifelten Einzelkampf den Aposteln der Civilisation unterliegen, sind auch
heute noch durchaus unschuldig an Europens übertünchter Höflichkeit.

Mit Entschiedenheit aber müssen wir den Vorwurf zurückweisen, daß
Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen dieses Volksgeistes schildert.
Gerade durch Gotthelf mag der Deutsche den festen, gesunden Kern erfassen
lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen
Heerstraße des alljährlichen Fremdenzuges in Hotels. Pensionen, bet Fremden¬
führern und Spekulanten nicht oder sehr selten zu finden ist.

Die innere Tüchtigkeit des Schweizer Landvolks, seinen urgesunden
Humor, sein treues Zusammenhalten und Sichgegenseittgaushelfen weiß gerade
Gotthelf zu schildern wie kein Andrer und in der durchaus urwüchsigen Um¬
gebung weiß doch auch Gotthelf liebliche und sinnige Gestalten erstehen zu
lassen, die fast fremdartig aus dem rauhen Rahmen sich abheben (Erdbeeri-
Mareili, Anneli in der Käserei auf der Vehfreude u. s. w.), oder die durch ihre
Fülle von schlichter Liebeskraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor¬
heben zu ihrer unbewußten Größe.

Solch eine Gestalt ist Kathi, die Großmutter, die arme, alte Frau die
um 7V-» Thaler halbjährliche Zinsen sich Monate hindurch abquält, und die
verzweifelnd dem Winter entgegenblickt, da die Kartoffeln mißrathen.

Diese Kathi ist nicht nur die Insassin ihres Heimathsdorfes. In ihrem
aufopfernden, mütterlichen Wirken, in ihrer so durchaus unpädagogischen und
in ihrer Lebenswahrheit so rührend geschilderten Erziehung oder vielmehr
Verziehung ihres Enkels ist sie das prächtigste Urbild aller prächtigen Gro߬
mütter, „so weit die deutsche Zunge klingt".

Die Verlagshandlung von Julius Springer bietet diese einzelne Er¬
zählung in neuer, wohlfeiler Ausgabe, so recht als ein Volksbuch dem Volke.
Und zwar sind im Auftrag des Unternehmers all die eingestreuten, politischen
Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung geschrieben


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[0472] Auch seine Verehrer (und wir bekennen uns hiemit öffentlich zu diesen) können den derben, oft verletzenden Realismus aus Gotthelf's Werken nicht hinweg läugnen, aber wenn seine Erzählungen uns Verhältnisse und Menschen vorführen, die in ihrer rohen Natürlichkeit namentlich das verfeinerte Gefühl des Städters beleidigen, so liegt dies an dem Volk, das er schildert und nicht an dem Dichter. Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab¬ wälzten auf den anziehenden Feind, fassen auch heute noch weder das Leben, noch ihre Gegner mit Glace"-Handschuhen an. oder, um die engere Hetmath der Gotthelf'schen Gestalten nicht zu verlassen, die Söhne jener Männer und Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Sensen. Dreschflegeln, Heugabeln bewaffnet, sich der „großen Nation" entgegen werfen und im ver¬ zweifelten Einzelkampf den Aposteln der Civilisation unterliegen, sind auch heute noch durchaus unschuldig an Europens übertünchter Höflichkeit. Mit Entschiedenheit aber müssen wir den Vorwurf zurückweisen, daß Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen dieses Volksgeistes schildert. Gerade durch Gotthelf mag der Deutsche den festen, gesunden Kern erfassen lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen Heerstraße des alljährlichen Fremdenzuges in Hotels. Pensionen, bet Fremden¬ führern und Spekulanten nicht oder sehr selten zu finden ist. Die innere Tüchtigkeit des Schweizer Landvolks, seinen urgesunden Humor, sein treues Zusammenhalten und Sichgegenseittgaushelfen weiß gerade Gotthelf zu schildern wie kein Andrer und in der durchaus urwüchsigen Um¬ gebung weiß doch auch Gotthelf liebliche und sinnige Gestalten erstehen zu lassen, die fast fremdartig aus dem rauhen Rahmen sich abheben (Erdbeeri- Mareili, Anneli in der Käserei auf der Vehfreude u. s. w.), oder die durch ihre Fülle von schlichter Liebeskraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor¬ heben zu ihrer unbewußten Größe. Solch eine Gestalt ist Kathi, die Großmutter, die arme, alte Frau die um 7V-» Thaler halbjährliche Zinsen sich Monate hindurch abquält, und die verzweifelnd dem Winter entgegenblickt, da die Kartoffeln mißrathen. Diese Kathi ist nicht nur die Insassin ihres Heimathsdorfes. In ihrem aufopfernden, mütterlichen Wirken, in ihrer so durchaus unpädagogischen und in ihrer Lebenswahrheit so rührend geschilderten Erziehung oder vielmehr Verziehung ihres Enkels ist sie das prächtigste Urbild aller prächtigen Gro߬ mütter, „so weit die deutsche Zunge klingt". Die Verlagshandlung von Julius Springer bietet diese einzelne Er¬ zählung in neuer, wohlfeiler Ausgabe, so recht als ein Volksbuch dem Volke. Und zwar sind im Auftrag des Unternehmers all die eingestreuten, politischen Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung geschrieben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/472>, abgerufen am 27.07.2024.