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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Vorstellungsrethen, nach einem bekannten psychologischen Gesetze, dem sich
Niemand entziehen kann, günstigsten Falles nur in derselben Deutlichkeit und
Frische reproduziren, wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit sie
auf der Bildfläche seiner Seele wiederspiegelte. Und da diese hier vorliegenden
Reproductionen seiner Reiseabenteuer und seiner Erlebnisse und Beobachtungen
im Silberlaut Nevada mit seltener Klarheit und Treue, sprudelndem Humor
und häufig mit ergreifender Poesie erfüllt sind, so sind wir vollkommen ve"
rechtigt zu sagen, daß Mark Twain die besten Vorzüge seines Talentes bereits
in sehr jungen Jahren besessen hat.

Unternommen wurde diese Reise von Mark Twain nach einer Vor¬
bereitung von höchstens zwei Stunden. Viel Einpacken war nicht nöthig, da
die Passagiere der Ueberlandpost von der Grenze Missouris bis Nevada nur
2S Pfund Gepäck pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate
wollte der junge Abenteurer im Silberlande abwesend sein -- "es fiel mir
nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diese Zeit. Ich gedachte, Alles
zu sehen was neu und seltsam war, und dann rasch nach Hause zu eilen
und wieder ans Geschäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das
Ende dieser dreimonatlichen Vergnügungstour erst nach Ablauf von sieben
ungewöhnlich langen Jahren zu sehen bekommen würde!"

In Se. Joseph schon mußte Abschied genommen werden von den Fracks
und Glacehandschuhen. Dagegen bewaffnete man sich bis an die Zähne-
So wurde Kansas durchfahren; wellenförmig hob und senkte sich das Erd'
reich. Maisfelder und Mettland wechselten mit einander. Aber bald sollte
diese See auf trocknem Boden ihren weite"förmigen Charakter verlieren und
sich siebenhundert Meilen so eben wie eine Stubendiele hinstrecken. -- "Unsre
Kutsche war ein großer, unaufhörlich schaukelnder und schwankender Kasten
von der mächtigsten Art -- eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde
von sechs hübschen Pferden gezogen und an der Seite des Postillons saß der
"Conducteur", der gesetzmäßige Oberste der Gesellschaft; denn es war seine
Aufgabe, für die Briefpost, das Gepäck, das Eilgut und die Passagiere Sorge
zu tragen. Wir drei waren auf dieser Tour die einzigen Passagiere.
saßen auf dem Rücksitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der KutsM
noch übrig war, war voll von Postsäcken; denn wir hatten die zurückgebliebne"
Posten von drei Tagen bei uns. So nahe unsern Knien, daß sie dieselbett
fast berührte, erhob sich bis zur Ueberdachung eine senkrechte Wand vo"
Postsachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dache sey
geschnallt, und sowohl die vordere als die Hintere Schooßkelle war voll
ihnen. Wir hatten siebenhundertzwanzig Pfund davon bei uns, wie de,
Postillon sagte -- "ein Bischen für Brigham und Carson und Frisco^



-) Vottsthümlich für San Francisco.

Vorstellungsrethen, nach einem bekannten psychologischen Gesetze, dem sich
Niemand entziehen kann, günstigsten Falles nur in derselben Deutlichkeit und
Frische reproduziren, wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit sie
auf der Bildfläche seiner Seele wiederspiegelte. Und da diese hier vorliegenden
Reproductionen seiner Reiseabenteuer und seiner Erlebnisse und Beobachtungen
im Silberlaut Nevada mit seltener Klarheit und Treue, sprudelndem Humor
und häufig mit ergreifender Poesie erfüllt sind, so sind wir vollkommen ve«
rechtigt zu sagen, daß Mark Twain die besten Vorzüge seines Talentes bereits
in sehr jungen Jahren besessen hat.

Unternommen wurde diese Reise von Mark Twain nach einer Vor¬
bereitung von höchstens zwei Stunden. Viel Einpacken war nicht nöthig, da
die Passagiere der Ueberlandpost von der Grenze Missouris bis Nevada nur
2S Pfund Gepäck pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate
wollte der junge Abenteurer im Silberlande abwesend sein — „es fiel mir
nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diese Zeit. Ich gedachte, Alles
zu sehen was neu und seltsam war, und dann rasch nach Hause zu eilen
und wieder ans Geschäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das
Ende dieser dreimonatlichen Vergnügungstour erst nach Ablauf von sieben
ungewöhnlich langen Jahren zu sehen bekommen würde!"

In Se. Joseph schon mußte Abschied genommen werden von den Fracks
und Glacehandschuhen. Dagegen bewaffnete man sich bis an die Zähne-
So wurde Kansas durchfahren; wellenförmig hob und senkte sich das Erd'
reich. Maisfelder und Mettland wechselten mit einander. Aber bald sollte
diese See auf trocknem Boden ihren weite»förmigen Charakter verlieren und
sich siebenhundert Meilen so eben wie eine Stubendiele hinstrecken. — „Unsre
Kutsche war ein großer, unaufhörlich schaukelnder und schwankender Kasten
von der mächtigsten Art — eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde
von sechs hübschen Pferden gezogen und an der Seite des Postillons saß der
„Conducteur", der gesetzmäßige Oberste der Gesellschaft; denn es war seine
Aufgabe, für die Briefpost, das Gepäck, das Eilgut und die Passagiere Sorge
zu tragen. Wir drei waren auf dieser Tour die einzigen Passagiere.
saßen auf dem Rücksitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der KutsM
noch übrig war, war voll von Postsäcken; denn wir hatten die zurückgebliebne"
Posten von drei Tagen bei uns. So nahe unsern Knien, daß sie dieselbett
fast berührte, erhob sich bis zur Ueberdachung eine senkrechte Wand vo»
Postsachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dache sey
geschnallt, und sowohl die vordere als die Hintere Schooßkelle war voll
ihnen. Wir hatten siebenhundertzwanzig Pfund davon bei uns, wie de,
Postillon sagte — „ein Bischen für Brigham und Carson und Frisco^



-) Vottsthümlich für San Francisco.
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[0338] Vorstellungsrethen, nach einem bekannten psychologischen Gesetze, dem sich Niemand entziehen kann, günstigsten Falles nur in derselben Deutlichkeit und Frische reproduziren, wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit sie auf der Bildfläche seiner Seele wiederspiegelte. Und da diese hier vorliegenden Reproductionen seiner Reiseabenteuer und seiner Erlebnisse und Beobachtungen im Silberlaut Nevada mit seltener Klarheit und Treue, sprudelndem Humor und häufig mit ergreifender Poesie erfüllt sind, so sind wir vollkommen ve« rechtigt zu sagen, daß Mark Twain die besten Vorzüge seines Talentes bereits in sehr jungen Jahren besessen hat. Unternommen wurde diese Reise von Mark Twain nach einer Vor¬ bereitung von höchstens zwei Stunden. Viel Einpacken war nicht nöthig, da die Passagiere der Ueberlandpost von der Grenze Missouris bis Nevada nur 2S Pfund Gepäck pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate wollte der junge Abenteurer im Silberlande abwesend sein — „es fiel mir nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diese Zeit. Ich gedachte, Alles zu sehen was neu und seltsam war, und dann rasch nach Hause zu eilen und wieder ans Geschäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das Ende dieser dreimonatlichen Vergnügungstour erst nach Ablauf von sieben ungewöhnlich langen Jahren zu sehen bekommen würde!" In Se. Joseph schon mußte Abschied genommen werden von den Fracks und Glacehandschuhen. Dagegen bewaffnete man sich bis an die Zähne- So wurde Kansas durchfahren; wellenförmig hob und senkte sich das Erd' reich. Maisfelder und Mettland wechselten mit einander. Aber bald sollte diese See auf trocknem Boden ihren weite»förmigen Charakter verlieren und sich siebenhundert Meilen so eben wie eine Stubendiele hinstrecken. — „Unsre Kutsche war ein großer, unaufhörlich schaukelnder und schwankender Kasten von der mächtigsten Art — eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde von sechs hübschen Pferden gezogen und an der Seite des Postillons saß der „Conducteur", der gesetzmäßige Oberste der Gesellschaft; denn es war seine Aufgabe, für die Briefpost, das Gepäck, das Eilgut und die Passagiere Sorge zu tragen. Wir drei waren auf dieser Tour die einzigen Passagiere. saßen auf dem Rücksitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der KutsM noch übrig war, war voll von Postsäcken; denn wir hatten die zurückgebliebne" Posten von drei Tagen bei uns. So nahe unsern Knien, daß sie dieselbett fast berührte, erhob sich bis zur Ueberdachung eine senkrechte Wand vo» Postsachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dache sey geschnallt, und sowohl die vordere als die Hintere Schooßkelle war voll ihnen. Wir hatten siebenhundertzwanzig Pfund davon bei uns, wie de, Postillon sagte — „ein Bischen für Brigham und Carson und Frisco^ -) Vottsthümlich für San Francisco.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/338>, abgerufen am 27.07.2024.