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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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es wenigstens unter Umständen sein, wenn die Versammlung in der Gunst
der öffentlichen Meinung tiefer und immer tiefer sank, wenn sie fortfuhr,
wie bisher von den Grundlagen ihrer Macht einen Stein nach dem andern
abzutragen. Dies waren Bedenken der ernstesten Art, denen sich die Mehr¬
heit unmöglich verschließen konnte; es kam ihr unendlich schwer an, den
Marschall in eine thatsächlich fast unabhängige Stellung zu versetzen, aus der
er, ohne Anwendung irgend einer Gewaltmaßregel, machen konnte, was er
wollte, und die jedenfalls an Bedeutung und Macht in dem Maße zunehmen
mußte, als das Ansehn der Versammlung abnahm. Aber man hatte eben
nicht mehr freie Hand; an den Gedanken einer einfachen Vollmachts¬
verlängerung unter den bisherigen Bedingungen hatte man sich bereits ge¬
wöhnt, man hatte sie schon während der Verhandlungen mit dem Grafen
Chambord für den Fall des Scheiterns derselben als letztes Rettungsmittel
ins Auge gefaßt, und man sah sehr wohl ein, daß man sich den von Mac
Mahon gestellten Bedingungen unterwerfen, oder auf jeden Widerstand gegen
die Republikaner verzichten müßte. Immerhin mochte jede Partei sich vor¬
behalten, zu gelegener Zeit auf ihre Pläne zurückzukommen, für den Augen¬
blick galt es, Mac Mahon am Ruder zu erhalten, wie bitter es auch war,
sich Bedingungen stellen zu lassen von einem Manne, dem man die höchste
Gewalt nur anvertraut hatte, weil man überzeugt war, er werde sie stets nur
als gefügiges Werkzeug seiner Auftraggeber ausüben. Diese Nachgiebigkeit
war zur Nothwendigkeit geworden, und die schüchternen Versuche, sich der¬
selben zu entziehn, stellten nur die Schwäche der Parteien ins grellste Licht.

Diesem Schicksal verfielen vor Allem die Orleanisten. Ganz behaglich
war ihnen die Unterordnung unter den Grafen Chambord mit Aufopferung
ihrer selbstständigen Ansprüche niemals gewesen. Was Wunder, wenn ihnen
jetzt der kluge Einfall kam, die allgemeine Auflösung zu einem orleanistischen
Handstreich auszubeuten? Sie beschlossen also in einer Parteiversammlung,
einem ihrer Prinzen die Generalstatthalterschast des Königreichs anzubieten.
Daß man zu dieser Stellung weder das Haupt noch das befähigte Mitglied
der Familie, sondern den wenig bedeutenden Joinville ausersah, zeugte von
der Unsicherheit und dem geringen Selbstvertrauen der kläglichen Planmacher,
deren Furchtsamkeit und Unentschlossenheit ganz ihrer Begehrlichkeit gleichkam-
Wahrscheinlich war man durchaus nicht überrascht, als Joinville, der denn
doch zu klug war, sich auf ein so hoffnungsloses Abenteuer einzulassen, durch
seine vertrauten Freunde erklären ließ, er könne auf kein derartiges Anerbieten
eingehn, da seine Verbindlichkeiten gegen seinen Vetter, die durch dessen Brief
keineswegs gelöst seien, ihm jedes selbständige Auftreten verböten. Diese Ab¬
weisung ernüchterte die Orleanisten vollkommen, und sie würden sich
selbst eine lebenslängliche Verlängerung der Vollmacht Mac Mahon's habe"


es wenigstens unter Umständen sein, wenn die Versammlung in der Gunst
der öffentlichen Meinung tiefer und immer tiefer sank, wenn sie fortfuhr,
wie bisher von den Grundlagen ihrer Macht einen Stein nach dem andern
abzutragen. Dies waren Bedenken der ernstesten Art, denen sich die Mehr¬
heit unmöglich verschließen konnte; es kam ihr unendlich schwer an, den
Marschall in eine thatsächlich fast unabhängige Stellung zu versetzen, aus der
er, ohne Anwendung irgend einer Gewaltmaßregel, machen konnte, was er
wollte, und die jedenfalls an Bedeutung und Macht in dem Maße zunehmen
mußte, als das Ansehn der Versammlung abnahm. Aber man hatte eben
nicht mehr freie Hand; an den Gedanken einer einfachen Vollmachts¬
verlängerung unter den bisherigen Bedingungen hatte man sich bereits ge¬
wöhnt, man hatte sie schon während der Verhandlungen mit dem Grafen
Chambord für den Fall des Scheiterns derselben als letztes Rettungsmittel
ins Auge gefaßt, und man sah sehr wohl ein, daß man sich den von Mac
Mahon gestellten Bedingungen unterwerfen, oder auf jeden Widerstand gegen
die Republikaner verzichten müßte. Immerhin mochte jede Partei sich vor¬
behalten, zu gelegener Zeit auf ihre Pläne zurückzukommen, für den Augen¬
blick galt es, Mac Mahon am Ruder zu erhalten, wie bitter es auch war,
sich Bedingungen stellen zu lassen von einem Manne, dem man die höchste
Gewalt nur anvertraut hatte, weil man überzeugt war, er werde sie stets nur
als gefügiges Werkzeug seiner Auftraggeber ausüben. Diese Nachgiebigkeit
war zur Nothwendigkeit geworden, und die schüchternen Versuche, sich der¬
selben zu entziehn, stellten nur die Schwäche der Parteien ins grellste Licht.

Diesem Schicksal verfielen vor Allem die Orleanisten. Ganz behaglich
war ihnen die Unterordnung unter den Grafen Chambord mit Aufopferung
ihrer selbstständigen Ansprüche niemals gewesen. Was Wunder, wenn ihnen
jetzt der kluge Einfall kam, die allgemeine Auflösung zu einem orleanistischen
Handstreich auszubeuten? Sie beschlossen also in einer Parteiversammlung,
einem ihrer Prinzen die Generalstatthalterschast des Königreichs anzubieten.
Daß man zu dieser Stellung weder das Haupt noch das befähigte Mitglied
der Familie, sondern den wenig bedeutenden Joinville ausersah, zeugte von
der Unsicherheit und dem geringen Selbstvertrauen der kläglichen Planmacher,
deren Furchtsamkeit und Unentschlossenheit ganz ihrer Begehrlichkeit gleichkam-
Wahrscheinlich war man durchaus nicht überrascht, als Joinville, der denn
doch zu klug war, sich auf ein so hoffnungsloses Abenteuer einzulassen, durch
seine vertrauten Freunde erklären ließ, er könne auf kein derartiges Anerbieten
eingehn, da seine Verbindlichkeiten gegen seinen Vetter, die durch dessen Brief
keineswegs gelöst seien, ihm jedes selbständige Auftreten verböten. Diese Ab¬
weisung ernüchterte die Orleanisten vollkommen, und sie würden sich
selbst eine lebenslängliche Verlängerung der Vollmacht Mac Mahon's habe"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/302>, abgerufen am 28.07.2024.