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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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besaß jedenfalls Selbstgefühl genug, um den entschiedensten Widerwillen gegen
die Zumuthung zu empfinden, noch länger der Mehrheit als Schildwache zu
dienen. Er hatte die Bestrebungen der Royalisten in keiner Weise gehindert
und ihnen durch seine fast apathische Haltung den besten Dienst geleistet, der
ihnen überhaupt von seiner Seite geleistet werden konnte. Als aber die kö¬
niglichen Parteien, nachdem ihre Hoffnung traurigen Schiffbruch gelitten
hatte, wieder zu ihm ihre Zuflucht nahmen, da weigerte er sich, als Aus¬
kunftsmittel sich gebrauchen zu lassen. Er forderte nicht weniger, als eine
von der Versammlung thatsächlich unabhängige Stellung: die Ausdehnung
seiner Gewalt aus zehn Jahre und die Ausstattung mit Gesetzen, die ihn in
den Stand setzten,, die ihm übertragene Gewalt auch wirksam auszuüben.
Während die Versammlung voraussichtlich bald auf dem Punkt der Zerrüttung
und Ohnmacht ankommen mußte, wo ihre Auflösung unvermeidlich war,
wollte er sich seine Macht auf eine lange Reihe von Jahren verlängern
lassen. Mochte die souveräne Versammlung für sich immerhin das Recht auf
eine unbegrenzte Lebensdauer in Anspruch nehmen, das war bei ihrer zu¬
nehmenden Zersetzung, bet der erschreckenden Unfruchtbarkeit ihrer Thätigkeit,
ein sehr werthloses Recht; und wenn dem Marschall verfassungsmäßig eine
bestimmte nicht allzu kurz bemessene Dauer seiner Macht zugesichert wurde, so
hieß das nichts andres, als seine Vollmachten über die voraussichtliche
Lebensdauer der souveränen Versammlung hinaus verlängern. Verfassungs-
wäßig blieb ja die Versammlung der Souverän; wenn sie aber die Mandats¬
dauer ihres Beauftragten von ihrer eigenen Existenz unabhängig machte, so
stellte sie selbst ihre eigene Macht vor der seinigen in Schatten; ja sie forderte
^n Präsidenten zu einem, sei es offenen und gewaltsamen, sei es versteckten
Staatsstreich förmlich heraus. So lange der Präsident wußte, daß die Auf¬
lösung der Versammlung auch seiner Macht ein Ziel setzte, lag es. wenn er
uicht unbedingt selner Wiederwahl durch eine neue Versammlung sicher war
seinem Interesse, die Sache der Versailler Volksvertreter als seine eigene
^ betrachten, sie vor den verderblichen Folgen ihrer eigenen Schwäche zu
schützen und Alles aufzubieten, um die Auflösung der Versammlung so lange
möglich hinaus zu schieben. Einen Conflikt hervorzurufen, wäre in diesem
Falle ein politischer Selbstmord oder die offene Ankündigung eines gewalt¬
samen Staatsstreichs gewesen. Ganz anders, wenn der Präsidentengewalt
Recht gewährleistet war, die Versammlung zu überleben und sie gewisser¬
maßen zu beerben, oder über ihr Erbe zu verfügen. Brach unter diesen
Umständen zwischen dem Präsidenten und der Versammlung ein ernstes Zer-
Mürfniß aus, so wurde ihm offenbar die Versuchung nahe gelegt, die Ver¬
sammlung zu den thörichtsten Maßregeln zu verlocken, keineswegs aber sie
den Folgen ihrer Thorheit zu schützen. Sein Vortheil war es, konnte


Grenzboten IV. 1874. ^

besaß jedenfalls Selbstgefühl genug, um den entschiedensten Widerwillen gegen
die Zumuthung zu empfinden, noch länger der Mehrheit als Schildwache zu
dienen. Er hatte die Bestrebungen der Royalisten in keiner Weise gehindert
und ihnen durch seine fast apathische Haltung den besten Dienst geleistet, der
ihnen überhaupt von seiner Seite geleistet werden konnte. Als aber die kö¬
niglichen Parteien, nachdem ihre Hoffnung traurigen Schiffbruch gelitten
hatte, wieder zu ihm ihre Zuflucht nahmen, da weigerte er sich, als Aus¬
kunftsmittel sich gebrauchen zu lassen. Er forderte nicht weniger, als eine
von der Versammlung thatsächlich unabhängige Stellung: die Ausdehnung
seiner Gewalt aus zehn Jahre und die Ausstattung mit Gesetzen, die ihn in
den Stand setzten,, die ihm übertragene Gewalt auch wirksam auszuüben.
Während die Versammlung voraussichtlich bald auf dem Punkt der Zerrüttung
und Ohnmacht ankommen mußte, wo ihre Auflösung unvermeidlich war,
wollte er sich seine Macht auf eine lange Reihe von Jahren verlängern
lassen. Mochte die souveräne Versammlung für sich immerhin das Recht auf
eine unbegrenzte Lebensdauer in Anspruch nehmen, das war bei ihrer zu¬
nehmenden Zersetzung, bet der erschreckenden Unfruchtbarkeit ihrer Thätigkeit,
ein sehr werthloses Recht; und wenn dem Marschall verfassungsmäßig eine
bestimmte nicht allzu kurz bemessene Dauer seiner Macht zugesichert wurde, so
hieß das nichts andres, als seine Vollmachten über die voraussichtliche
Lebensdauer der souveränen Versammlung hinaus verlängern. Verfassungs-
wäßig blieb ja die Versammlung der Souverän; wenn sie aber die Mandats¬
dauer ihres Beauftragten von ihrer eigenen Existenz unabhängig machte, so
stellte sie selbst ihre eigene Macht vor der seinigen in Schatten; ja sie forderte
^n Präsidenten zu einem, sei es offenen und gewaltsamen, sei es versteckten
Staatsstreich förmlich heraus. So lange der Präsident wußte, daß die Auf¬
lösung der Versammlung auch seiner Macht ein Ziel setzte, lag es. wenn er
uicht unbedingt selner Wiederwahl durch eine neue Versammlung sicher war
seinem Interesse, die Sache der Versailler Volksvertreter als seine eigene
^ betrachten, sie vor den verderblichen Folgen ihrer eigenen Schwäche zu
schützen und Alles aufzubieten, um die Auflösung der Versammlung so lange
möglich hinaus zu schieben. Einen Conflikt hervorzurufen, wäre in diesem
Falle ein politischer Selbstmord oder die offene Ankündigung eines gewalt¬
samen Staatsstreichs gewesen. Ganz anders, wenn der Präsidentengewalt
Recht gewährleistet war, die Versammlung zu überleben und sie gewisser¬
maßen zu beerben, oder über ihr Erbe zu verfügen. Brach unter diesen
Umständen zwischen dem Präsidenten und der Versammlung ein ernstes Zer-
Mürfniß aus, so wurde ihm offenbar die Versuchung nahe gelegt, die Ver¬
sammlung zu den thörichtsten Maßregeln zu verlocken, keineswegs aber sie
den Folgen ihrer Thorheit zu schützen. Sein Vortheil war es, konnte


Grenzboten IV. 1874. ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/301>, abgerufen am 28.07.2024.