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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Schriftsteller jener Tage deutlicher und wahrer geschildert worden, als von
Herman Grimm. Er ist rücksichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend
eine jener menschlichen Schwächen zu verschleiern, welche das schöne Freundschafts-
Verhältniß der beiden großen Männer so brüsk lösten. Aber dafür ist
Grimm auch deutlicher und wahrer als irgend ein Anderer in der Erklärung
der psychologischen Motive, aus denen sich die beiden großen Geister zuerst
mit Naturnotwendigkeit einander nähern und sich auch geistig wieder suchen
und finden müssen, nachdem sie persönlich sich für immer getrennt haben.
Namentlich aus Seiten Friedrich's des Großen ist dieses Geistesbedürfniß in
der Jugend wie im Alter mit gleicher Meisterschaft dargelegt. Auch dieser
Abschnitt sollte'fleißig im Originale gelesen werden.

Am Schlüsse seiner Abhandlung kehrt Grimm noch einmal zu dem Ge¬
danken zurück, von dem er ausgegangen und führt ihn weiter zu dem Satze:
Voltaire ist die Frucht der allgemeinen romanischen Entwickelung, der Personi-
fication Frankreichs. So betrachtet, enthüllt sich uns das letzte Geheimniß
seiner Existenz und seiner Wirkung. "Es gab eine Zeit, wo Europa
griechisch überfluthet gewesen zu sein scheint. Es gab eine Zeit, wo Europa
und ein Theil Asiens und Amerikas von den romanischen Gewässern über¬
schwemmt war. Wir sehen heute die gesammte Menschenwelt der Erde im
Beginn/ germanisirt zu werden. .. Die Epochen der romanischen Weltherrschaft
liegen deutlich vor uns. Zuerst galt es das Griechenthum zu besiegen und
in sich aufzunehmen. Dann, als die Alleinherrschaft unbestritten war, wurden
die germanischen, keltischen und iberischen Völker aufgesogen. Von Nom ging
die Leitung über auf Spanien, von Spanien auf Frankreich. Das Papstthum
war die eigentliche Centralschöpfung der romanischen Race; die Herrschaft
Frankreichs ist ihre letzte Anstrengung gegenüber dem anwachsenden germanischen
Principal. Das siöels So I.puis XIV. von Voltaire ist die vom Geiste der
romanischen Race selber gefundene literarische Form für ihr letztes gewaltiges
Aufleuchten über Europa vor ihrem Zusammensinken. . . Auch Voltaire ent¬
spricht in seinem ganzen Wesen der gesammten romanischen Existenz, deren
glänzender Untergang durch ihn verewigt werden sollte." In diesem Sinne
hat ihn schon Goethe mit historischem Takte am besten erfaßt. Auch Goethe
faßt Voltaire als Personification Frankreichs auf, und spricht ihm und damit
Zugleich dem französischen Volke Tiefe und Vollendung ab. Es entspräche
diese Erscheinung dem Abhandenkommen dieser beiden Eigenschaften zur Zeit
des Sinkens der griechischen Welt. Ueber die letzten Zeiten der germanischen
Race heute reden zu wollen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen.
Uns bleibt für die nächsten Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu
kämpfen und, wie die Romanen der ersten Zeit ihre geistige Existenz auf die
griechische Kultur, so die unsrige auf die der Griechen und Romanen zu basiren.


Schriftsteller jener Tage deutlicher und wahrer geschildert worden, als von
Herman Grimm. Er ist rücksichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend
eine jener menschlichen Schwächen zu verschleiern, welche das schöne Freundschafts-
Verhältniß der beiden großen Männer so brüsk lösten. Aber dafür ist
Grimm auch deutlicher und wahrer als irgend ein Anderer in der Erklärung
der psychologischen Motive, aus denen sich die beiden großen Geister zuerst
mit Naturnotwendigkeit einander nähern und sich auch geistig wieder suchen
und finden müssen, nachdem sie persönlich sich für immer getrennt haben.
Namentlich aus Seiten Friedrich's des Großen ist dieses Geistesbedürfniß in
der Jugend wie im Alter mit gleicher Meisterschaft dargelegt. Auch dieser
Abschnitt sollte'fleißig im Originale gelesen werden.

Am Schlüsse seiner Abhandlung kehrt Grimm noch einmal zu dem Ge¬
danken zurück, von dem er ausgegangen und führt ihn weiter zu dem Satze:
Voltaire ist die Frucht der allgemeinen romanischen Entwickelung, der Personi-
fication Frankreichs. So betrachtet, enthüllt sich uns das letzte Geheimniß
seiner Existenz und seiner Wirkung. „Es gab eine Zeit, wo Europa
griechisch überfluthet gewesen zu sein scheint. Es gab eine Zeit, wo Europa
und ein Theil Asiens und Amerikas von den romanischen Gewässern über¬
schwemmt war. Wir sehen heute die gesammte Menschenwelt der Erde im
Beginn/ germanisirt zu werden. .. Die Epochen der romanischen Weltherrschaft
liegen deutlich vor uns. Zuerst galt es das Griechenthum zu besiegen und
in sich aufzunehmen. Dann, als die Alleinherrschaft unbestritten war, wurden
die germanischen, keltischen und iberischen Völker aufgesogen. Von Nom ging
die Leitung über auf Spanien, von Spanien auf Frankreich. Das Papstthum
war die eigentliche Centralschöpfung der romanischen Race; die Herrschaft
Frankreichs ist ihre letzte Anstrengung gegenüber dem anwachsenden germanischen
Principal. Das siöels So I.puis XIV. von Voltaire ist die vom Geiste der
romanischen Race selber gefundene literarische Form für ihr letztes gewaltiges
Aufleuchten über Europa vor ihrem Zusammensinken. . . Auch Voltaire ent¬
spricht in seinem ganzen Wesen der gesammten romanischen Existenz, deren
glänzender Untergang durch ihn verewigt werden sollte." In diesem Sinne
hat ihn schon Goethe mit historischem Takte am besten erfaßt. Auch Goethe
faßt Voltaire als Personification Frankreichs auf, und spricht ihm und damit
Zugleich dem französischen Volke Tiefe und Vollendung ab. Es entspräche
diese Erscheinung dem Abhandenkommen dieser beiden Eigenschaften zur Zeit
des Sinkens der griechischen Welt. Ueber die letzten Zeiten der germanischen
Race heute reden zu wollen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen.
Uns bleibt für die nächsten Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu
kämpfen und, wie die Romanen der ersten Zeit ihre geistige Existenz auf die
griechische Kultur, so die unsrige auf die der Griechen und Romanen zu basiren.


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[0019] Schriftsteller jener Tage deutlicher und wahrer geschildert worden, als von Herman Grimm. Er ist rücksichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend eine jener menschlichen Schwächen zu verschleiern, welche das schöne Freundschafts- Verhältniß der beiden großen Männer so brüsk lösten. Aber dafür ist Grimm auch deutlicher und wahrer als irgend ein Anderer in der Erklärung der psychologischen Motive, aus denen sich die beiden großen Geister zuerst mit Naturnotwendigkeit einander nähern und sich auch geistig wieder suchen und finden müssen, nachdem sie persönlich sich für immer getrennt haben. Namentlich aus Seiten Friedrich's des Großen ist dieses Geistesbedürfniß in der Jugend wie im Alter mit gleicher Meisterschaft dargelegt. Auch dieser Abschnitt sollte'fleißig im Originale gelesen werden. Am Schlüsse seiner Abhandlung kehrt Grimm noch einmal zu dem Ge¬ danken zurück, von dem er ausgegangen und führt ihn weiter zu dem Satze: Voltaire ist die Frucht der allgemeinen romanischen Entwickelung, der Personi- fication Frankreichs. So betrachtet, enthüllt sich uns das letzte Geheimniß seiner Existenz und seiner Wirkung. „Es gab eine Zeit, wo Europa griechisch überfluthet gewesen zu sein scheint. Es gab eine Zeit, wo Europa und ein Theil Asiens und Amerikas von den romanischen Gewässern über¬ schwemmt war. Wir sehen heute die gesammte Menschenwelt der Erde im Beginn/ germanisirt zu werden. .. Die Epochen der romanischen Weltherrschaft liegen deutlich vor uns. Zuerst galt es das Griechenthum zu besiegen und in sich aufzunehmen. Dann, als die Alleinherrschaft unbestritten war, wurden die germanischen, keltischen und iberischen Völker aufgesogen. Von Nom ging die Leitung über auf Spanien, von Spanien auf Frankreich. Das Papstthum war die eigentliche Centralschöpfung der romanischen Race; die Herrschaft Frankreichs ist ihre letzte Anstrengung gegenüber dem anwachsenden germanischen Principal. Das siöels So I.puis XIV. von Voltaire ist die vom Geiste der romanischen Race selber gefundene literarische Form für ihr letztes gewaltiges Aufleuchten über Europa vor ihrem Zusammensinken. . . Auch Voltaire ent¬ spricht in seinem ganzen Wesen der gesammten romanischen Existenz, deren glänzender Untergang durch ihn verewigt werden sollte." In diesem Sinne hat ihn schon Goethe mit historischem Takte am besten erfaßt. Auch Goethe faßt Voltaire als Personification Frankreichs auf, und spricht ihm und damit Zugleich dem französischen Volke Tiefe und Vollendung ab. Es entspräche diese Erscheinung dem Abhandenkommen dieser beiden Eigenschaften zur Zeit des Sinkens der griechischen Welt. Ueber die letzten Zeiten der germanischen Race heute reden zu wollen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen. Uns bleibt für die nächsten Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu kämpfen und, wie die Romanen der ersten Zeit ihre geistige Existenz auf die griechische Kultur, so die unsrige auf die der Griechen und Romanen zu basiren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/19>, abgerufen am 27.07.2024.