Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

merkte. Schlingen legen, in denen sich Agamedes fing, während Trophonios,
nachdem er, um nicht verrathen zu werden, seinem Bruder den Kopf ab¬
geschnitten und in seinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, wo in
einem Haine ihn die Erde verschlungen haben soll. -- Wahrscheinlich aber
hat er sich selbst eine unterirdische Höhle zu seinem Versteck gewählt, spielte
hier den Wahrsager und wurde nach seinem Tode unter den Namen Zeus
Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens kam dieses neue Orakel erst durch
einen Delphischen Orakelspruch in Aufnahme. Die Böotier hatten sich in
Folge einer großen Dürre an das Delphische Orakel um Rath gewandt, er¬
hielten aber von demselben die Weisung, den Trophonios in Lebadia aufzu¬
suchen. Lange wurde vergeblich gesucht, bis ein Bienenschwarm den Weg
und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo sich Spuren von Götternähe
fanden und ihnen befriedigende Antwort wurde, zugleich mit der Anweisung,
Wie künftig Trophonios zu verehren und um Rath zu fragen sei. Später
Wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Orakel befand sich in
einem Hause, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Vor derselben war
ein Vorhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus demselben trat man in
eine gewölbte Felsengrotte, und von dieser führte eine enge Schlucht in eine
Unter derselben befindliche unterirdische Höhle, welche das dunkle, dumpfe
Adyton genannt wurde. Sobald der Rathfragende in diese enge Schlucht
seine Füße hineinzwängte, wurde er plötzlich mit reißender Gewalt wie von
einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf dieselbe
Weise beförderte die verborgene Maschinerie denselben wieder herauf und warf
ihn im bewußtlosen Zustande aus den Boden der oberen Felsengrotte nieder.
Wollte Jemand den Gott um Rath fragen, so hatte er zuvor verschiedene
Ceremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Flusse Hercyan,
Enthaltung von Wein und anderen Speisen außer dem Fleische der dar¬
gebrachten Opferthiere, in der letzten Nacht Opfer eines Widders, dessen Ein¬
geweide über die Annahme oder Zurückweisung des Fragenden entschieden,
dann ein letztes Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe
^> h. Vergessenheit, nämlich alles Vergangenen) und Mnemosyne (d. h. Ge¬
dächtniß, nämlich für das, was sich in der Höhle ereignen würde). Erst nach¬
dem alle diese Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar
ganz allein die Grottenkapelle des Gottes betreten, wo er sein Gebet ver¬
achtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdische Adyton
^"abzufahren. Hier hörte derselbe, umgeben von dicker Finsterniß und in
^ib bewußtlosem Zustande liegend, geheimnißvolle Stimmen, oder sah ge¬
spenstische Erscheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort
seine Frage zu entnehmen war. Sobald er nach kürzerem oder längerem
Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, wurde er von den


merkte. Schlingen legen, in denen sich Agamedes fing, während Trophonios,
nachdem er, um nicht verrathen zu werden, seinem Bruder den Kopf ab¬
geschnitten und in seinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, wo in
einem Haine ihn die Erde verschlungen haben soll. — Wahrscheinlich aber
hat er sich selbst eine unterirdische Höhle zu seinem Versteck gewählt, spielte
hier den Wahrsager und wurde nach seinem Tode unter den Namen Zeus
Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens kam dieses neue Orakel erst durch
einen Delphischen Orakelspruch in Aufnahme. Die Böotier hatten sich in
Folge einer großen Dürre an das Delphische Orakel um Rath gewandt, er¬
hielten aber von demselben die Weisung, den Trophonios in Lebadia aufzu¬
suchen. Lange wurde vergeblich gesucht, bis ein Bienenschwarm den Weg
und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo sich Spuren von Götternähe
fanden und ihnen befriedigende Antwort wurde, zugleich mit der Anweisung,
Wie künftig Trophonios zu verehren und um Rath zu fragen sei. Später
Wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Orakel befand sich in
einem Hause, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Vor derselben war
ein Vorhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus demselben trat man in
eine gewölbte Felsengrotte, und von dieser führte eine enge Schlucht in eine
Unter derselben befindliche unterirdische Höhle, welche das dunkle, dumpfe
Adyton genannt wurde. Sobald der Rathfragende in diese enge Schlucht
seine Füße hineinzwängte, wurde er plötzlich mit reißender Gewalt wie von
einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf dieselbe
Weise beförderte die verborgene Maschinerie denselben wieder herauf und warf
ihn im bewußtlosen Zustande aus den Boden der oberen Felsengrotte nieder.
Wollte Jemand den Gott um Rath fragen, so hatte er zuvor verschiedene
Ceremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Flusse Hercyan,
Enthaltung von Wein und anderen Speisen außer dem Fleische der dar¬
gebrachten Opferthiere, in der letzten Nacht Opfer eines Widders, dessen Ein¬
geweide über die Annahme oder Zurückweisung des Fragenden entschieden,
dann ein letztes Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe
^> h. Vergessenheit, nämlich alles Vergangenen) und Mnemosyne (d. h. Ge¬
dächtniß, nämlich für das, was sich in der Höhle ereignen würde). Erst nach¬
dem alle diese Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar
ganz allein die Grottenkapelle des Gottes betreten, wo er sein Gebet ver¬
achtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdische Adyton
^«abzufahren. Hier hörte derselbe, umgeben von dicker Finsterniß und in
^ib bewußtlosem Zustande liegend, geheimnißvolle Stimmen, oder sah ge¬
spenstische Erscheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort
seine Frage zu entnehmen war. Sobald er nach kürzerem oder längerem
Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, wurde er von den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132399"/>
          <p xml:id="ID_581" prev="#ID_580" next="#ID_582"> merkte. Schlingen legen, in denen sich Agamedes fing, während Trophonios,<lb/>
nachdem er, um nicht verrathen zu werden, seinem Bruder den Kopf ab¬<lb/>
geschnitten und in seinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, wo in<lb/>
einem Haine ihn die Erde verschlungen haben soll. &#x2014; Wahrscheinlich aber<lb/>
hat er sich selbst eine unterirdische Höhle zu seinem Versteck gewählt, spielte<lb/>
hier den Wahrsager und wurde nach seinem Tode unter den Namen Zeus<lb/>
Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens kam dieses neue Orakel erst durch<lb/>
einen Delphischen Orakelspruch in Aufnahme. Die Böotier hatten sich in<lb/>
Folge einer großen Dürre an das Delphische Orakel um Rath gewandt, er¬<lb/>
hielten aber von demselben die Weisung, den Trophonios in Lebadia aufzu¬<lb/>
suchen. Lange wurde vergeblich gesucht, bis ein Bienenschwarm den Weg<lb/>
und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo sich Spuren von Götternähe<lb/>
fanden und ihnen befriedigende Antwort wurde, zugleich mit der Anweisung,<lb/>
Wie künftig Trophonios zu verehren und um Rath zu fragen sei. Später<lb/>
Wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Orakel befand sich in<lb/>
einem Hause, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Vor derselben war<lb/>
ein Vorhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus demselben trat man in<lb/>
eine gewölbte Felsengrotte, und von dieser führte eine enge Schlucht in eine<lb/>
Unter derselben befindliche unterirdische Höhle, welche das dunkle, dumpfe<lb/>
Adyton genannt wurde. Sobald der Rathfragende in diese enge Schlucht<lb/>
seine Füße hineinzwängte, wurde er plötzlich mit reißender Gewalt wie von<lb/>
einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf dieselbe<lb/>
Weise beförderte die verborgene Maschinerie denselben wieder herauf und warf<lb/>
ihn im bewußtlosen Zustande aus den Boden der oberen Felsengrotte nieder.<lb/>
Wollte Jemand den Gott um Rath fragen, so hatte er zuvor verschiedene<lb/>
Ceremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Flusse Hercyan,<lb/>
Enthaltung von Wein und anderen Speisen außer dem Fleische der dar¬<lb/>
gebrachten Opferthiere, in der letzten Nacht Opfer eines Widders, dessen Ein¬<lb/>
geweide über die Annahme oder Zurückweisung des Fragenden entschieden,<lb/>
dann ein letztes Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe<lb/>
^&gt; h. Vergessenheit, nämlich alles Vergangenen) und Mnemosyne (d. h. Ge¬<lb/>
dächtniß, nämlich für das, was sich in der Höhle ereignen würde). Erst nach¬<lb/>
dem alle diese Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar<lb/>
ganz allein die Grottenkapelle des Gottes betreten, wo er sein Gebet ver¬<lb/>
achtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdische Adyton<lb/>
^«abzufahren. Hier hörte derselbe, umgeben von dicker Finsterniß und in<lb/>
^ib bewußtlosem Zustande liegend, geheimnißvolle Stimmen, oder sah ge¬<lb/>
spenstische Erscheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort<lb/>
seine Frage zu entnehmen war. Sobald er nach kürzerem oder längerem<lb/>
Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, wurde er von den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0177] merkte. Schlingen legen, in denen sich Agamedes fing, während Trophonios, nachdem er, um nicht verrathen zu werden, seinem Bruder den Kopf ab¬ geschnitten und in seinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, wo in einem Haine ihn die Erde verschlungen haben soll. — Wahrscheinlich aber hat er sich selbst eine unterirdische Höhle zu seinem Versteck gewählt, spielte hier den Wahrsager und wurde nach seinem Tode unter den Namen Zeus Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens kam dieses neue Orakel erst durch einen Delphischen Orakelspruch in Aufnahme. Die Böotier hatten sich in Folge einer großen Dürre an das Delphische Orakel um Rath gewandt, er¬ hielten aber von demselben die Weisung, den Trophonios in Lebadia aufzu¬ suchen. Lange wurde vergeblich gesucht, bis ein Bienenschwarm den Weg und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo sich Spuren von Götternähe fanden und ihnen befriedigende Antwort wurde, zugleich mit der Anweisung, Wie künftig Trophonios zu verehren und um Rath zu fragen sei. Später Wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Orakel befand sich in einem Hause, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Vor derselben war ein Vorhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus demselben trat man in eine gewölbte Felsengrotte, und von dieser führte eine enge Schlucht in eine Unter derselben befindliche unterirdische Höhle, welche das dunkle, dumpfe Adyton genannt wurde. Sobald der Rathfragende in diese enge Schlucht seine Füße hineinzwängte, wurde er plötzlich mit reißender Gewalt wie von einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf dieselbe Weise beförderte die verborgene Maschinerie denselben wieder herauf und warf ihn im bewußtlosen Zustande aus den Boden der oberen Felsengrotte nieder. Wollte Jemand den Gott um Rath fragen, so hatte er zuvor verschiedene Ceremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Flusse Hercyan, Enthaltung von Wein und anderen Speisen außer dem Fleische der dar¬ gebrachten Opferthiere, in der letzten Nacht Opfer eines Widders, dessen Ein¬ geweide über die Annahme oder Zurückweisung des Fragenden entschieden, dann ein letztes Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe ^> h. Vergessenheit, nämlich alles Vergangenen) und Mnemosyne (d. h. Ge¬ dächtniß, nämlich für das, was sich in der Höhle ereignen würde). Erst nach¬ dem alle diese Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar ganz allein die Grottenkapelle des Gottes betreten, wo er sein Gebet ver¬ achtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdische Adyton ^«abzufahren. Hier hörte derselbe, umgeben von dicker Finsterniß und in ^ib bewußtlosem Zustande liegend, geheimnißvolle Stimmen, oder sah ge¬ spenstische Erscheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort seine Frage zu entnehmen war. Sobald er nach kürzerem oder längerem Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, wurde er von den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/177
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/177>, abgerufen am 27.07.2024.