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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Unweit Milet stand der Tempel des Apollo Didymäus mit dem Orakel
der Branchiden, welches unter den ältesten Orakeln Griechenlands genannt
wird und auch noch in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung
Spuren seirur Existenz und Wirksamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus,
d. h. Zwilling, hatte Apollo als Zwillingsbruder der Artemis. Die
Branchiden. eine vornehme Milesische Familie, welche als Inhaber des Orakels
genannt werden, leiten ihren Ursprung her von einer mythischen Persönlichkeit,
Namens Branchus, der sich der besonderen Gunst des Apollo zu erfreuen
hatte und von diesem in seinen Tempel aufgenommen wurde mit der
Bestimmung, daß ihm nach seinem Tode göttliche Ehre erwiesen werden solle.
Aus der Geschichte des Orakels ist zu merken, daß zur Zeit der Perserkriege
der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und
verbrannt wurde, indem die Priester, die aus der Familie der Branchiden
stammten, ihn verrätherischer Weise den Feinden überlieferten. Die Milesier
bauten später den Tempel wieder auf und zwar nach einem so weit und
großartig angelegten Projecte, daß er nicht vollendet werden konnte. Das
Orakel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute sich
in der öffentlichen Meinung sogar des ersten Ranges nach dem Delphischen,
wovon auch die großen Schätze und Kostbarkeiten, die ihm gehörten und von
der Dankbarkeit der zahlreichen Besucher herrührten. Beweis sind.

An der Spitze des Priesterpersonals von Didyma stand der Stephanophorus,
der bei den Verrichtungen seines Amtes, wie der Name besagt, eine Krone
trug; die specielle Leitung des Orakels war das Amt des Propheten, der
durch das Loos ernannt wurde; über die Verwaltung des Tempelschatzcs
waren die Beisitzer gesetzt, deren Zahl nicht immer gleich gewesen zu sein
scheint. Was die Orakelcerem'onien betrifft, so wird nur berichtet, daß die¬
selben sich an eine kleine, heilige Quelle knüpften, die bei Didyma entsprang
und daß die Weissagungen in enthusiastischer Weise ertheilt wurden, nämlich
so, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge¬
wandes und ihre Füße benetzte und die aus derselben aufsteigenden Dünste in
sich sog, als Medium der Offenbarung gebraucht wurde.

Ein Orakel in Levadia hatte seinen Namen von einem gewissen Tro-
phonios, der mit seinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeister war
und mit demselben die Apollotempel zu Chrysa und Delphi erbaut haben
soll. Auch bauten die Brüder einem gewissen Hyrieus in Böotien ein Ge¬
bäude, worin derselbe seine Schätze aufbewahren wollte. Die verschmitzten
Brüder setzten einen Stein in die Mauer so ein, daß ,er bequem heraus¬
genommen werden konnte, und benutzten die Oeffnung, welche spurlos wieder
verschlossen werden konnte, um bei Nacht einzusteigen und von den Schätzen
des Hyrieus zu stehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien


Unweit Milet stand der Tempel des Apollo Didymäus mit dem Orakel
der Branchiden, welches unter den ältesten Orakeln Griechenlands genannt
wird und auch noch in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung
Spuren seirur Existenz und Wirksamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus,
d. h. Zwilling, hatte Apollo als Zwillingsbruder der Artemis. Die
Branchiden. eine vornehme Milesische Familie, welche als Inhaber des Orakels
genannt werden, leiten ihren Ursprung her von einer mythischen Persönlichkeit,
Namens Branchus, der sich der besonderen Gunst des Apollo zu erfreuen
hatte und von diesem in seinen Tempel aufgenommen wurde mit der
Bestimmung, daß ihm nach seinem Tode göttliche Ehre erwiesen werden solle.
Aus der Geschichte des Orakels ist zu merken, daß zur Zeit der Perserkriege
der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und
verbrannt wurde, indem die Priester, die aus der Familie der Branchiden
stammten, ihn verrätherischer Weise den Feinden überlieferten. Die Milesier
bauten später den Tempel wieder auf und zwar nach einem so weit und
großartig angelegten Projecte, daß er nicht vollendet werden konnte. Das
Orakel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute sich
in der öffentlichen Meinung sogar des ersten Ranges nach dem Delphischen,
wovon auch die großen Schätze und Kostbarkeiten, die ihm gehörten und von
der Dankbarkeit der zahlreichen Besucher herrührten. Beweis sind.

An der Spitze des Priesterpersonals von Didyma stand der Stephanophorus,
der bei den Verrichtungen seines Amtes, wie der Name besagt, eine Krone
trug; die specielle Leitung des Orakels war das Amt des Propheten, der
durch das Loos ernannt wurde; über die Verwaltung des Tempelschatzcs
waren die Beisitzer gesetzt, deren Zahl nicht immer gleich gewesen zu sein
scheint. Was die Orakelcerem'onien betrifft, so wird nur berichtet, daß die¬
selben sich an eine kleine, heilige Quelle knüpften, die bei Didyma entsprang
und daß die Weissagungen in enthusiastischer Weise ertheilt wurden, nämlich
so, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge¬
wandes und ihre Füße benetzte und die aus derselben aufsteigenden Dünste in
sich sog, als Medium der Offenbarung gebraucht wurde.

Ein Orakel in Levadia hatte seinen Namen von einem gewissen Tro-
phonios, der mit seinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeister war
und mit demselben die Apollotempel zu Chrysa und Delphi erbaut haben
soll. Auch bauten die Brüder einem gewissen Hyrieus in Böotien ein Ge¬
bäude, worin derselbe seine Schätze aufbewahren wollte. Die verschmitzten
Brüder setzten einen Stein in die Mauer so ein, daß ,er bequem heraus¬
genommen werden konnte, und benutzten die Oeffnung, welche spurlos wieder
verschlossen werden konnte, um bei Nacht einzusteigen und von den Schätzen
des Hyrieus zu stehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien


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[0176] Unweit Milet stand der Tempel des Apollo Didymäus mit dem Orakel der Branchiden, welches unter den ältesten Orakeln Griechenlands genannt wird und auch noch in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung Spuren seirur Existenz und Wirksamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus, d. h. Zwilling, hatte Apollo als Zwillingsbruder der Artemis. Die Branchiden. eine vornehme Milesische Familie, welche als Inhaber des Orakels genannt werden, leiten ihren Ursprung her von einer mythischen Persönlichkeit, Namens Branchus, der sich der besonderen Gunst des Apollo zu erfreuen hatte und von diesem in seinen Tempel aufgenommen wurde mit der Bestimmung, daß ihm nach seinem Tode göttliche Ehre erwiesen werden solle. Aus der Geschichte des Orakels ist zu merken, daß zur Zeit der Perserkriege der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und verbrannt wurde, indem die Priester, die aus der Familie der Branchiden stammten, ihn verrätherischer Weise den Feinden überlieferten. Die Milesier bauten später den Tempel wieder auf und zwar nach einem so weit und großartig angelegten Projecte, daß er nicht vollendet werden konnte. Das Orakel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute sich in der öffentlichen Meinung sogar des ersten Ranges nach dem Delphischen, wovon auch die großen Schätze und Kostbarkeiten, die ihm gehörten und von der Dankbarkeit der zahlreichen Besucher herrührten. Beweis sind. An der Spitze des Priesterpersonals von Didyma stand der Stephanophorus, der bei den Verrichtungen seines Amtes, wie der Name besagt, eine Krone trug; die specielle Leitung des Orakels war das Amt des Propheten, der durch das Loos ernannt wurde; über die Verwaltung des Tempelschatzcs waren die Beisitzer gesetzt, deren Zahl nicht immer gleich gewesen zu sein scheint. Was die Orakelcerem'onien betrifft, so wird nur berichtet, daß die¬ selben sich an eine kleine, heilige Quelle knüpften, die bei Didyma entsprang und daß die Weissagungen in enthusiastischer Weise ertheilt wurden, nämlich so, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge¬ wandes und ihre Füße benetzte und die aus derselben aufsteigenden Dünste in sich sog, als Medium der Offenbarung gebraucht wurde. Ein Orakel in Levadia hatte seinen Namen von einem gewissen Tro- phonios, der mit seinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeister war und mit demselben die Apollotempel zu Chrysa und Delphi erbaut haben soll. Auch bauten die Brüder einem gewissen Hyrieus in Böotien ein Ge¬ bäude, worin derselbe seine Schätze aufbewahren wollte. Die verschmitzten Brüder setzten einen Stein in die Mauer so ein, daß ,er bequem heraus¬ genommen werden konnte, und benutzten die Oeffnung, welche spurlos wieder verschlossen werden konnte, um bei Nacht einzusteigen und von den Schätzen des Hyrieus zu stehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/176>, abgerufen am 29.12.2024.