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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Steinchen befanden, die durch die aufwärts strömende Dunstsäule geschüttelt
wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weissa¬
gungen entnahm; wahrscheinlich ist es aber nur ein einfacher, mit drei Füßen
versehener Sitz gewesen, von dem aus die Pythia ihre Weissagungen gab.

Anfangs wurde der Dienst der Pythia jedesmal nur von einer einzigen
Jungfrau versehen, die zuerst in jugendlichem, später in reiferem Alter stehen
mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi
stammte und den niedrigsten Ständen angehörte. Später, als die Frequenz
des Orakels zunahm und eine Person den Dienst nicht mehr bewältigen
konnte, wurden immer drei Pythien eingesetzt, die der Reihe nach die Func-
tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß bestieg,
um des Gottes Offenbarungen zu empfangen, nahm sie ein Bad in der nahen
Quelle Kastalia, schmückte sich das Haar Mit Lorbeerkränzen und pflückte
auch von einem nahe bei der Höhle stehenden Lorbeerbaume einige Blätter
ab, die sie verzehrte. Dann zeigte sich auch sehr bald an ihr die Wirkung
des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufstieg. Sie gerieth durch denselben
allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An¬
gesicht glühte fieberhaft, ihre Augen traten fast aus ihren Höhlen und fun¬
kelten unheimlich, kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und Schaum trat aus
ihrem Munde, fast erstickt von dem betäubenden Dunste und festgehalten auf
ihrem Sitze von den Händen der Priester, brach sie endlich in ein förmliches
Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrochene Worte unterschied,
die von den Priestern sorgfältig aufgezeichnet, später in Zusammenhang ge¬
bracht und den Fragenden als Antwort des Gottes gegeben wurden. Diese
Sprüche des Orakels wurden gewöhnlich in hexametrischen Versen ertheilt
und waren oft doppelsinnig und zweideutig , standen aber hinsichtlich ihrer
Zuverlässigkeit in höchstem Ansehen, bis überhaupt mit der zunehmenden
Aufklärung der Glaube an die Orakel mehr und mehr abnahm.

Auf der Insel Delos, einer der Cykladen im ägäischen Meere, von der
die Sage erzählt, daß sie einst ein auf dem Meere schwimmender, kahler und
unfruchtbarer Felsen gewesen sei, aber seit Latona hier die Götterktnder
Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund¬
festen der Erde aufstiegen. befand sich gleichfalls ein gefeiertes Orakel des
Apollo. Ein mit vielen Bildsäulen und Altären geschmückter Tempel war
hier dem Apollo erbaut, in welchem sich auch die berühmte colossale Statue
des Gottes befand. In welcher Meise hier die Orakel ertheilt wurden, ist
uicht bekannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu¬
verlässigsten und klarsten. Uebrigens wurden dieselben nur im Sommer er¬
theilt, da Apollo nach der Mythe im Winter sich in Lycien aufhielt, um dort
"und Orakel zu ertheilen.


Steinchen befanden, die durch die aufwärts strömende Dunstsäule geschüttelt
wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weissa¬
gungen entnahm; wahrscheinlich ist es aber nur ein einfacher, mit drei Füßen
versehener Sitz gewesen, von dem aus die Pythia ihre Weissagungen gab.

Anfangs wurde der Dienst der Pythia jedesmal nur von einer einzigen
Jungfrau versehen, die zuerst in jugendlichem, später in reiferem Alter stehen
mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi
stammte und den niedrigsten Ständen angehörte. Später, als die Frequenz
des Orakels zunahm und eine Person den Dienst nicht mehr bewältigen
konnte, wurden immer drei Pythien eingesetzt, die der Reihe nach die Func-
tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß bestieg,
um des Gottes Offenbarungen zu empfangen, nahm sie ein Bad in der nahen
Quelle Kastalia, schmückte sich das Haar Mit Lorbeerkränzen und pflückte
auch von einem nahe bei der Höhle stehenden Lorbeerbaume einige Blätter
ab, die sie verzehrte. Dann zeigte sich auch sehr bald an ihr die Wirkung
des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufstieg. Sie gerieth durch denselben
allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An¬
gesicht glühte fieberhaft, ihre Augen traten fast aus ihren Höhlen und fun¬
kelten unheimlich, kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und Schaum trat aus
ihrem Munde, fast erstickt von dem betäubenden Dunste und festgehalten auf
ihrem Sitze von den Händen der Priester, brach sie endlich in ein förmliches
Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrochene Worte unterschied,
die von den Priestern sorgfältig aufgezeichnet, später in Zusammenhang ge¬
bracht und den Fragenden als Antwort des Gottes gegeben wurden. Diese
Sprüche des Orakels wurden gewöhnlich in hexametrischen Versen ertheilt
und waren oft doppelsinnig und zweideutig , standen aber hinsichtlich ihrer
Zuverlässigkeit in höchstem Ansehen, bis überhaupt mit der zunehmenden
Aufklärung der Glaube an die Orakel mehr und mehr abnahm.

Auf der Insel Delos, einer der Cykladen im ägäischen Meere, von der
die Sage erzählt, daß sie einst ein auf dem Meere schwimmender, kahler und
unfruchtbarer Felsen gewesen sei, aber seit Latona hier die Götterktnder
Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund¬
festen der Erde aufstiegen. befand sich gleichfalls ein gefeiertes Orakel des
Apollo. Ein mit vielen Bildsäulen und Altären geschmückter Tempel war
hier dem Apollo erbaut, in welchem sich auch die berühmte colossale Statue
des Gottes befand. In welcher Meise hier die Orakel ertheilt wurden, ist
uicht bekannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu¬
verlässigsten und klarsten. Uebrigens wurden dieselben nur im Sommer er¬
theilt, da Apollo nach der Mythe im Winter sich in Lycien aufhielt, um dort
«und Orakel zu ertheilen.


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[0175] Steinchen befanden, die durch die aufwärts strömende Dunstsäule geschüttelt wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weissa¬ gungen entnahm; wahrscheinlich ist es aber nur ein einfacher, mit drei Füßen versehener Sitz gewesen, von dem aus die Pythia ihre Weissagungen gab. Anfangs wurde der Dienst der Pythia jedesmal nur von einer einzigen Jungfrau versehen, die zuerst in jugendlichem, später in reiferem Alter stehen mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi stammte und den niedrigsten Ständen angehörte. Später, als die Frequenz des Orakels zunahm und eine Person den Dienst nicht mehr bewältigen konnte, wurden immer drei Pythien eingesetzt, die der Reihe nach die Func- tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß bestieg, um des Gottes Offenbarungen zu empfangen, nahm sie ein Bad in der nahen Quelle Kastalia, schmückte sich das Haar Mit Lorbeerkränzen und pflückte auch von einem nahe bei der Höhle stehenden Lorbeerbaume einige Blätter ab, die sie verzehrte. Dann zeigte sich auch sehr bald an ihr die Wirkung des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufstieg. Sie gerieth durch denselben allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An¬ gesicht glühte fieberhaft, ihre Augen traten fast aus ihren Höhlen und fun¬ kelten unheimlich, kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und Schaum trat aus ihrem Munde, fast erstickt von dem betäubenden Dunste und festgehalten auf ihrem Sitze von den Händen der Priester, brach sie endlich in ein förmliches Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrochene Worte unterschied, die von den Priestern sorgfältig aufgezeichnet, später in Zusammenhang ge¬ bracht und den Fragenden als Antwort des Gottes gegeben wurden. Diese Sprüche des Orakels wurden gewöhnlich in hexametrischen Versen ertheilt und waren oft doppelsinnig und zweideutig , standen aber hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit in höchstem Ansehen, bis überhaupt mit der zunehmenden Aufklärung der Glaube an die Orakel mehr und mehr abnahm. Auf der Insel Delos, einer der Cykladen im ägäischen Meere, von der die Sage erzählt, daß sie einst ein auf dem Meere schwimmender, kahler und unfruchtbarer Felsen gewesen sei, aber seit Latona hier die Götterktnder Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund¬ festen der Erde aufstiegen. befand sich gleichfalls ein gefeiertes Orakel des Apollo. Ein mit vielen Bildsäulen und Altären geschmückter Tempel war hier dem Apollo erbaut, in welchem sich auch die berühmte colossale Statue des Gottes befand. In welcher Meise hier die Orakel ertheilt wurden, ist uicht bekannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu¬ verlässigsten und klarsten. Uebrigens wurden dieselben nur im Sommer er¬ theilt, da Apollo nach der Mythe im Winter sich in Lycien aufhielt, um dort «und Orakel zu ertheilen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/175>, abgerufen am 27.07.2024.