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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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die von jenen griechischen Einsiedlern aufgesucht wurden, wo sie nun
in völliger Abgeschiedenheit lebten, allein beschäftigt, dem Gott zu dienen,
für dessen Organ sie sich hielten. Bald knüpfte sich an ihre Person
ein Ruf besonderer Heiligkeit und der Gabe, die Zukunft zu enthüllen und
den Fragenden ihre kommenden Schicksale zu prophezeien. Von nah und
fern strömte nun das gläubige Volk herbei, um in schwierigen Lebenslagen
sich Rath, über Vergangenes Klarheit, über Zukünftiges Gewißheit zu holen.
Zahlreiche und kostbare Geschenke wurden aus Dankbarkeit an den Stufen
des Altars niedergelegt und allmählich entstanden da. wo sonst Wildniß und
Einöde war, die herrlichsten Tempelbauten, in deren Hallen ein buntes viel¬
gestaltiges Leben wogte. Der gottbegeisterte Seher, dem ein solcher Tempel
sein Entstehen verdankte, fand dann in einer oft vielzähligen Priesterzunft,
die sich dem Dienste desselben Gottes weihte, seine Nachfolger, auf die sich
dieselbe Gotteserleuchtung vererbte.

Auf solche Weise werden die später so großartigen Orakelanstalten
Griechenlands entstanden sein, und was anfangs mehr der Zufall hervorge¬
rufen hatte, das wurde später in kluger Berechnung geflissentlich zu erhalten
und zu erweitern gesucht und hat in der That einen das ganze private und
öffentliche Leben des Volkes völlig beherrschenden Einfluß gewonnen. Kein
Grieche ging an ein irgendwie wichtiges Unternehmen, ohne zuvor das Orakel
um seinen Rath zu fragen; in Streitigkeiten wurde seine Schiedsstimme an¬
gerufen; in Krankheitsfällen suchte man bei ihm Heilung; bei öffentlichen
' Wahlen fragte man dort an. aus wen des Gottes Stimme fiele; kein Krieg
wurde erklärt, kein Friede geschlossen, der nicht durch einen Orakelspruch seine
Sanction erhalten hätte; kurz nach allen Richtungen des Lebens hin erstreckte
sich der Einfluß der Orakel.

Unleugbar lag in diesem wichtigen Einfluß ein großer Segen. Wer es
hört, wie ein Orakelspruch langjährige Streitigkeiten, die nur zum Nachtheil
Und Verderben beider Parteien mit Zähigkeit und Erbitterung genährt wurden,
beseitigte; wie vortreffliche Rathschläge häufig den Fragenden ertheilt wurden;
wie nur durch das Ansehen des Orakels einem Lykurg und Solon möglich
wurde, ihre vortrefflichen, das allgemeine Volkswohl wichtig fördernden Ge¬
setzgebungen und bürgerlichen Einrichtungen durchzusetzen, gegen welche sich
sonst das an seinen veralteten Institutionen und verjährten Vorurtheilen mit
Zähigkeit hängende Volk ohne Zweifel aufgelehnt hätte; wie die Orakel der
Sitz und die Freistatt der Weisheit waren, von wo aus heilsame Lehren, als
Götteraussprüche doppelt hoch gehalten, in das Volk eindrangen: der wird
von der einseitigen Geringschätzung und vornehmen Verachtung dieser ja frei¬
lich mit viel Aberglauben und absichtlicher Täuschung behafteten Institute
Zurückkommen und gebührender Weise das Gute anerkennen, das sie für ihre


die von jenen griechischen Einsiedlern aufgesucht wurden, wo sie nun
in völliger Abgeschiedenheit lebten, allein beschäftigt, dem Gott zu dienen,
für dessen Organ sie sich hielten. Bald knüpfte sich an ihre Person
ein Ruf besonderer Heiligkeit und der Gabe, die Zukunft zu enthüllen und
den Fragenden ihre kommenden Schicksale zu prophezeien. Von nah und
fern strömte nun das gläubige Volk herbei, um in schwierigen Lebenslagen
sich Rath, über Vergangenes Klarheit, über Zukünftiges Gewißheit zu holen.
Zahlreiche und kostbare Geschenke wurden aus Dankbarkeit an den Stufen
des Altars niedergelegt und allmählich entstanden da. wo sonst Wildniß und
Einöde war, die herrlichsten Tempelbauten, in deren Hallen ein buntes viel¬
gestaltiges Leben wogte. Der gottbegeisterte Seher, dem ein solcher Tempel
sein Entstehen verdankte, fand dann in einer oft vielzähligen Priesterzunft,
die sich dem Dienste desselben Gottes weihte, seine Nachfolger, auf die sich
dieselbe Gotteserleuchtung vererbte.

Auf solche Weise werden die später so großartigen Orakelanstalten
Griechenlands entstanden sein, und was anfangs mehr der Zufall hervorge¬
rufen hatte, das wurde später in kluger Berechnung geflissentlich zu erhalten
und zu erweitern gesucht und hat in der That einen das ganze private und
öffentliche Leben des Volkes völlig beherrschenden Einfluß gewonnen. Kein
Grieche ging an ein irgendwie wichtiges Unternehmen, ohne zuvor das Orakel
um seinen Rath zu fragen; in Streitigkeiten wurde seine Schiedsstimme an¬
gerufen; in Krankheitsfällen suchte man bei ihm Heilung; bei öffentlichen
' Wahlen fragte man dort an. aus wen des Gottes Stimme fiele; kein Krieg
wurde erklärt, kein Friede geschlossen, der nicht durch einen Orakelspruch seine
Sanction erhalten hätte; kurz nach allen Richtungen des Lebens hin erstreckte
sich der Einfluß der Orakel.

Unleugbar lag in diesem wichtigen Einfluß ein großer Segen. Wer es
hört, wie ein Orakelspruch langjährige Streitigkeiten, die nur zum Nachtheil
Und Verderben beider Parteien mit Zähigkeit und Erbitterung genährt wurden,
beseitigte; wie vortreffliche Rathschläge häufig den Fragenden ertheilt wurden;
wie nur durch das Ansehen des Orakels einem Lykurg und Solon möglich
wurde, ihre vortrefflichen, das allgemeine Volkswohl wichtig fördernden Ge¬
setzgebungen und bürgerlichen Einrichtungen durchzusetzen, gegen welche sich
sonst das an seinen veralteten Institutionen und verjährten Vorurtheilen mit
Zähigkeit hängende Volk ohne Zweifel aufgelehnt hätte; wie die Orakel der
Sitz und die Freistatt der Weisheit waren, von wo aus heilsame Lehren, als
Götteraussprüche doppelt hoch gehalten, in das Volk eindrangen: der wird
von der einseitigen Geringschätzung und vornehmen Verachtung dieser ja frei¬
lich mit viel Aberglauben und absichtlicher Täuschung behafteten Institute
Zurückkommen und gebührender Weise das Gute anerkennen, das sie für ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/171>, abgerufen am 27.07.2024.