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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Zeit gewirkt haben, und sie für einen wichtigen Factor in der Entwickelungs¬
geschichte der griechischen Cultur ansehen.

Was sie waren, sind sie freilich nicht geblieben, und nachdem sie
ihre Aufgabe erfüllt und sich ausgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon
frühe mag es vorgekommen sein, daß dieses oder jenes Orakel, dieser oder
jener Priester desselben anfing, sich für seine Aussprüche bestechen zu lassen,
oder durch offenbare Betrügereien die leichtgläubige Menge zu täuschen. Hier¬
her gehört schon das Bestreben der meisten Orakel, ihren Aussprüchen eine
ganz unbestimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortspielen,
Doppelsinnigkeiten, Zweideutigkeiten den Mangel an rechter Erkenntniß und
klarem Blick zu verbergen. Aus späterer Zeit werden aber auch ausdrücklich
einige Fälle berichtet, aus denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel
zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomenes, König von
Sparta, um seinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu stürzen, das Del¬
phische Orakel bestochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema¬
ratus ein Sohn des Aristo sei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe¬
lichkeit seiner Geburt berechtigt seien, in letzterem Sinne zu entscheiden, was
zur Folge hatte, daß allerdings Demaratus abgesetzt wurde. Der Leiche des
Pausanias, dessen Verrätherei und elendes Ende bekannt ist, wurde anfangs
ein ehrenvolles Begräbnis; versagt; in Folge eines durch Geld erkauften Orakel¬
spruchs dagegen wurden seine Gebeine vor dem Tempel, in dem er sein Ende
gefunden, feierlich bestattet. Eine großartige Betrügerei wird uns auch von
Lysander erzählt, der nämlich beabsichtigte, die ganze Staatsverfassung seines
Volkes umzustürzen, und dazu die Mithülfe des Delphischen Orakels durch An¬
wendung seiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde.

Wenn aus diesen Beispielen, die sich leicht vermehren ließen, eines-
theils deutlich hervorgeht, wie tief die Orakel im Lause der Zeit gesunken
waren, so muß es andererseits um so mehr Wunder nehmen, wie trotzdem
diese Anstalten noch Jahrhunderte lang in großem Ansehen stehen konnten,
und wie es kam, daß nicht längst dem Volke die Augen geöffnet wurden.
Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Vorstellungen im Volke wur¬
zeln und wie leicht es ist, auch einen einmal ein wenig erschütterten Glauben
bei demselben wieder zu befestigen; wie wenig verbreitet damals noch die Bil¬
dung im Volke war und einen wie kleinen Kreis das Licht der Philosophie
beschien; welch ein Interesse die Vornehmen und Hochstehenden hatten, das
Volk in seinem Aberglauben und auf seiner niedrigen Bildungsstufe zu er¬
halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Orakelsprüche, die sie selbst
belachten und verspotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die sich
in einzelnen Fällen von der selten Bestechlichkeit und Augendienerei der
Orakel überzeugt hatten, dennoch eine gewisse Pietät und ein gewisser Respect


Zeit gewirkt haben, und sie für einen wichtigen Factor in der Entwickelungs¬
geschichte der griechischen Cultur ansehen.

Was sie waren, sind sie freilich nicht geblieben, und nachdem sie
ihre Aufgabe erfüllt und sich ausgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon
frühe mag es vorgekommen sein, daß dieses oder jenes Orakel, dieser oder
jener Priester desselben anfing, sich für seine Aussprüche bestechen zu lassen,
oder durch offenbare Betrügereien die leichtgläubige Menge zu täuschen. Hier¬
her gehört schon das Bestreben der meisten Orakel, ihren Aussprüchen eine
ganz unbestimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortspielen,
Doppelsinnigkeiten, Zweideutigkeiten den Mangel an rechter Erkenntniß und
klarem Blick zu verbergen. Aus späterer Zeit werden aber auch ausdrücklich
einige Fälle berichtet, aus denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel
zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomenes, König von
Sparta, um seinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu stürzen, das Del¬
phische Orakel bestochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema¬
ratus ein Sohn des Aristo sei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe¬
lichkeit seiner Geburt berechtigt seien, in letzterem Sinne zu entscheiden, was
zur Folge hatte, daß allerdings Demaratus abgesetzt wurde. Der Leiche des
Pausanias, dessen Verrätherei und elendes Ende bekannt ist, wurde anfangs
ein ehrenvolles Begräbnis; versagt; in Folge eines durch Geld erkauften Orakel¬
spruchs dagegen wurden seine Gebeine vor dem Tempel, in dem er sein Ende
gefunden, feierlich bestattet. Eine großartige Betrügerei wird uns auch von
Lysander erzählt, der nämlich beabsichtigte, die ganze Staatsverfassung seines
Volkes umzustürzen, und dazu die Mithülfe des Delphischen Orakels durch An¬
wendung seiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde.

Wenn aus diesen Beispielen, die sich leicht vermehren ließen, eines-
theils deutlich hervorgeht, wie tief die Orakel im Lause der Zeit gesunken
waren, so muß es andererseits um so mehr Wunder nehmen, wie trotzdem
diese Anstalten noch Jahrhunderte lang in großem Ansehen stehen konnten,
und wie es kam, daß nicht längst dem Volke die Augen geöffnet wurden.
Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Vorstellungen im Volke wur¬
zeln und wie leicht es ist, auch einen einmal ein wenig erschütterten Glauben
bei demselben wieder zu befestigen; wie wenig verbreitet damals noch die Bil¬
dung im Volke war und einen wie kleinen Kreis das Licht der Philosophie
beschien; welch ein Interesse die Vornehmen und Hochstehenden hatten, das
Volk in seinem Aberglauben und auf seiner niedrigen Bildungsstufe zu er¬
halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Orakelsprüche, die sie selbst
belachten und verspotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die sich
in einzelnen Fällen von der selten Bestechlichkeit und Augendienerei der
Orakel überzeugt hatten, dennoch eine gewisse Pietät und ein gewisser Respect


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[0172] Zeit gewirkt haben, und sie für einen wichtigen Factor in der Entwickelungs¬ geschichte der griechischen Cultur ansehen. Was sie waren, sind sie freilich nicht geblieben, und nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt und sich ausgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon frühe mag es vorgekommen sein, daß dieses oder jenes Orakel, dieser oder jener Priester desselben anfing, sich für seine Aussprüche bestechen zu lassen, oder durch offenbare Betrügereien die leichtgläubige Menge zu täuschen. Hier¬ her gehört schon das Bestreben der meisten Orakel, ihren Aussprüchen eine ganz unbestimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortspielen, Doppelsinnigkeiten, Zweideutigkeiten den Mangel an rechter Erkenntniß und klarem Blick zu verbergen. Aus späterer Zeit werden aber auch ausdrücklich einige Fälle berichtet, aus denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomenes, König von Sparta, um seinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu stürzen, das Del¬ phische Orakel bestochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema¬ ratus ein Sohn des Aristo sei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe¬ lichkeit seiner Geburt berechtigt seien, in letzterem Sinne zu entscheiden, was zur Folge hatte, daß allerdings Demaratus abgesetzt wurde. Der Leiche des Pausanias, dessen Verrätherei und elendes Ende bekannt ist, wurde anfangs ein ehrenvolles Begräbnis; versagt; in Folge eines durch Geld erkauften Orakel¬ spruchs dagegen wurden seine Gebeine vor dem Tempel, in dem er sein Ende gefunden, feierlich bestattet. Eine großartige Betrügerei wird uns auch von Lysander erzählt, der nämlich beabsichtigte, die ganze Staatsverfassung seines Volkes umzustürzen, und dazu die Mithülfe des Delphischen Orakels durch An¬ wendung seiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde. Wenn aus diesen Beispielen, die sich leicht vermehren ließen, eines- theils deutlich hervorgeht, wie tief die Orakel im Lause der Zeit gesunken waren, so muß es andererseits um so mehr Wunder nehmen, wie trotzdem diese Anstalten noch Jahrhunderte lang in großem Ansehen stehen konnten, und wie es kam, daß nicht längst dem Volke die Augen geöffnet wurden. Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Vorstellungen im Volke wur¬ zeln und wie leicht es ist, auch einen einmal ein wenig erschütterten Glauben bei demselben wieder zu befestigen; wie wenig verbreitet damals noch die Bil¬ dung im Volke war und einen wie kleinen Kreis das Licht der Philosophie beschien; welch ein Interesse die Vornehmen und Hochstehenden hatten, das Volk in seinem Aberglauben und auf seiner niedrigen Bildungsstufe zu er¬ halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Orakelsprüche, die sie selbst belachten und verspotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die sich in einzelnen Fällen von der selten Bestechlichkeit und Augendienerei der Orakel überzeugt hatten, dennoch eine gewisse Pietät und ein gewisser Respect

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/172>, abgerufen am 27.07.2024.