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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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auch in Bezug auf die Beschaffenheit derselben sind die geschichtlichen Quellen
höchst unsicher, da die alten Schriftsteller theils zu abergläubig sind, um
ein ruhiges, unbefangenes Urtheil über die Orakel zu fällen, theils zu un¬
gläubig, d. h. so voll des Spottes und der schärfsten Bitterkeit, daß kein vor-
urtheilsfreier Standpunkt von ihnen zu erwarten ist. Wie dem aber auch
sein mag, so viel ist sicher, daß die Orakel Institute von höchster Bedeutung
für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und
daß sie, wenn sich auch, namentlich in späteren Zeiten, viel absichtliche
Täuschung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen
gewesen sind.

Schon früher bestand bei den Griechen die Sitte, gewisse Gegenden und
kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz besonders zu weihen. Städte und
Länder stellten sich unter den besondern Schutz einer Gottheit und glaubten
darum sich ihrer besonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen
u. f. w. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diese letztere dann gerade
dort besonders gegenwärtig gedacht. So wird uns schon von Herkules (Soph.
Trans.) erzählt, er habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen
Hain geweiht; eine Insel unweit Lemnos, wo Philoktetes den verderblichen
Biß erhielt, war der Chryse geweiht und erhielt von ihr den Namen; ein
Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort
gefürchtet. Gewöhnlich wurden an solchen Stellen der betreffenden Gottheit
Altäre gebaut und an einigen später auch Tempel, die dann als Sitz und
Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo dieselbe durch den Mund
der Priester, die sich ihrem Dienste widmeten, sich offenbarte. Auch jene Pro¬
pheten, die wir oben schilderten, sind oft Gründer später sehr berühmter Orakel
geworden. In der schwärmerischen Richtung ihres Wesens, getrieben bald von
dem Streben, ungestört dem Gott, der sie begeisterte, dienen zu können, bald
freilich auch von dem egoistischen Zweck, den Ruf einer besonderen Heiligkeit
zu erlangen und dadurch bei dem Volke eines größeren Einflusses sich zu ver¬
sichern, zogen sich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Welt zu¬
rück in ein einsames, einsiedlerisches Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind
wie mit geheimnißvollen Götterstimmen durch die Wipfel der Bäume rauschte,
eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätscher wie Geisterstimmen aus der
Tiefe klang, eine abgelegene Felsengrotte, von deren dunklen Wänden Geister¬
nähe den Eintretenden anstarrte, gähnende Erdspalten und Klüfte, aus denen
berauschende und betäubende Dämpfe aufstiegen, die Nähe der Gottheit an¬
kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgspartien, schauerliche
Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten
und auf den Menschen einen erhebenden, großartigen, oder auch schreckhaften,
Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten -- das waren die Orte,


auch in Bezug auf die Beschaffenheit derselben sind die geschichtlichen Quellen
höchst unsicher, da die alten Schriftsteller theils zu abergläubig sind, um
ein ruhiges, unbefangenes Urtheil über die Orakel zu fällen, theils zu un¬
gläubig, d. h. so voll des Spottes und der schärfsten Bitterkeit, daß kein vor-
urtheilsfreier Standpunkt von ihnen zu erwarten ist. Wie dem aber auch
sein mag, so viel ist sicher, daß die Orakel Institute von höchster Bedeutung
für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und
daß sie, wenn sich auch, namentlich in späteren Zeiten, viel absichtliche
Täuschung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen
gewesen sind.

Schon früher bestand bei den Griechen die Sitte, gewisse Gegenden und
kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz besonders zu weihen. Städte und
Länder stellten sich unter den besondern Schutz einer Gottheit und glaubten
darum sich ihrer besonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen
u. f. w. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diese letztere dann gerade
dort besonders gegenwärtig gedacht. So wird uns schon von Herkules (Soph.
Trans.) erzählt, er habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen
Hain geweiht; eine Insel unweit Lemnos, wo Philoktetes den verderblichen
Biß erhielt, war der Chryse geweiht und erhielt von ihr den Namen; ein
Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort
gefürchtet. Gewöhnlich wurden an solchen Stellen der betreffenden Gottheit
Altäre gebaut und an einigen später auch Tempel, die dann als Sitz und
Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo dieselbe durch den Mund
der Priester, die sich ihrem Dienste widmeten, sich offenbarte. Auch jene Pro¬
pheten, die wir oben schilderten, sind oft Gründer später sehr berühmter Orakel
geworden. In der schwärmerischen Richtung ihres Wesens, getrieben bald von
dem Streben, ungestört dem Gott, der sie begeisterte, dienen zu können, bald
freilich auch von dem egoistischen Zweck, den Ruf einer besonderen Heiligkeit
zu erlangen und dadurch bei dem Volke eines größeren Einflusses sich zu ver¬
sichern, zogen sich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Welt zu¬
rück in ein einsames, einsiedlerisches Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind
wie mit geheimnißvollen Götterstimmen durch die Wipfel der Bäume rauschte,
eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätscher wie Geisterstimmen aus der
Tiefe klang, eine abgelegene Felsengrotte, von deren dunklen Wänden Geister¬
nähe den Eintretenden anstarrte, gähnende Erdspalten und Klüfte, aus denen
berauschende und betäubende Dämpfe aufstiegen, die Nähe der Gottheit an¬
kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgspartien, schauerliche
Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten
und auf den Menschen einen erhebenden, großartigen, oder auch schreckhaften,
Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten — das waren die Orte,


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[0170] auch in Bezug auf die Beschaffenheit derselben sind die geschichtlichen Quellen höchst unsicher, da die alten Schriftsteller theils zu abergläubig sind, um ein ruhiges, unbefangenes Urtheil über die Orakel zu fällen, theils zu un¬ gläubig, d. h. so voll des Spottes und der schärfsten Bitterkeit, daß kein vor- urtheilsfreier Standpunkt von ihnen zu erwarten ist. Wie dem aber auch sein mag, so viel ist sicher, daß die Orakel Institute von höchster Bedeutung für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und daß sie, wenn sich auch, namentlich in späteren Zeiten, viel absichtliche Täuschung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen gewesen sind. Schon früher bestand bei den Griechen die Sitte, gewisse Gegenden und kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz besonders zu weihen. Städte und Länder stellten sich unter den besondern Schutz einer Gottheit und glaubten darum sich ihrer besonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen u. f. w. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diese letztere dann gerade dort besonders gegenwärtig gedacht. So wird uns schon von Herkules (Soph. Trans.) erzählt, er habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen Hain geweiht; eine Insel unweit Lemnos, wo Philoktetes den verderblichen Biß erhielt, war der Chryse geweiht und erhielt von ihr den Namen; ein Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort gefürchtet. Gewöhnlich wurden an solchen Stellen der betreffenden Gottheit Altäre gebaut und an einigen später auch Tempel, die dann als Sitz und Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo dieselbe durch den Mund der Priester, die sich ihrem Dienste widmeten, sich offenbarte. Auch jene Pro¬ pheten, die wir oben schilderten, sind oft Gründer später sehr berühmter Orakel geworden. In der schwärmerischen Richtung ihres Wesens, getrieben bald von dem Streben, ungestört dem Gott, der sie begeisterte, dienen zu können, bald freilich auch von dem egoistischen Zweck, den Ruf einer besonderen Heiligkeit zu erlangen und dadurch bei dem Volke eines größeren Einflusses sich zu ver¬ sichern, zogen sich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Welt zu¬ rück in ein einsames, einsiedlerisches Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind wie mit geheimnißvollen Götterstimmen durch die Wipfel der Bäume rauschte, eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätscher wie Geisterstimmen aus der Tiefe klang, eine abgelegene Felsengrotte, von deren dunklen Wänden Geister¬ nähe den Eintretenden anstarrte, gähnende Erdspalten und Klüfte, aus denen berauschende und betäubende Dämpfe aufstiegen, die Nähe der Gottheit an¬ kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgspartien, schauerliche Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten und auf den Menschen einen erhebenden, großartigen, oder auch schreckhaften, Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten — das waren die Orte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/170>, abgerufen am 27.07.2024.