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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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glaubens wurden Sonnen- und Mondfinsternisse betrachtet, weil man ihre
natürliche Erklärung nicht kannte; deßgleichen schloß man aus dem Wesen
des Windes, aus Blitz, Donner, Erdbeben und anderen Naturerscheinungen
bald auf Glück, bald auf Unglück. Eine große Rolle in der Prophetie der
alten Griechen spielten auch die Träume. Nicht jeder Traum aber
wurde für bedeutsam in Bezug auf zukünftige Ereignisse gehalten, sondern
nur unter gewissen Bedingungen ihm eine solche Bedeutung beigemessen. Er¬
schien z. B. dem Schlafenden im Traume ein Gott, sei es in eigener oder in
angenommener Gestalt, um jenem irgend etwas zu offenbaren, so galt ein
solcher Traum in höchstem Grade für bedeutsam und die Worte des Gottes,
die der Träumende gehört, als untrügliche, unfehlbare Wahrheit. So be¬
wegte der von Zeus gesandte, in Nestors Gestalt dem schlafenden Agamemnon
erscheinende Traumgott letzteren, sofort das Heer zu einer entscheidenden
Schlacht gegen die Trojaner zu rüsten, da die Worte des Traumgottes ihm
Sieg in Aussicht stellten. Auch wenn im Traum ein zukünftiges Ereigniß
als im gegenwärtigen Augenblick eintretend geschaut wurde, so wurde an das
einstige Eintreten desselben mit zweifelloser Gewißheit geglaubt. Hierher ge¬
hört der Traum Alexanders, der ihm als seinen zukünftigen Mörder den
Kassander bezeichnete. Endlich legte man auch solchen Träumen eine tiefere
Bedeutung bei, in denen sich das zukünftige Ereigniß in symbolischer oder
allegorischer Form darstellte. Ein solcher Traum ängstigte nach Sophokles
Elektra die Klytämnestra; der gemordete Gatte, Agamemnon, erschien ihr im
Traume und bohrte den Herrscherstab, den er in der Hand hielt, in den
Heerd des Hauses ein, aus dem dann ein junges, frisches Reis hervorsproßte,
von dem die ganze Stadt Mykenä beschattet ward. Dieser Traum wird von
dem Chor sofort auf blutige Rache gedeutet, die in Orestes, Agamenmons
Sohne, nahe. Auch jener Traum der Hekuba, der Gemahlin des trojanischen
Königs Priamus, aus ihrem Schooße werde ein Feuerbrand geboren, wurde
als allegorisch angesehen und von dem Wahrsager Aesakos dahin erklärt, daß
der erwartete Sohn (es war Paris) dem Reiche den Untergang bereiten werde.

Aus dieser Art der Weissagung, die wohl an einzelnen Personen, keines¬
wegs aber einen bestimmten Ort gebunden war, entstanden nun die Orakel,
deren Eigenthümlichkeit eben darin beruht, daß ihre Weissagungen nur von
einem bestimmten Orte aus ergehen und mit diesem Orte in engster Verbin¬
dung stehen. Schon von einzelnen Sehern wird uns erzählt, daß ihnen nach
ihrem Tode ein eigenes Orakel geweiht wurde, z. B. von Kalchas, dessen
Orakel in Daumen auf dem Hügel Drinn sich befand, wo der, welcher seinen
Rath begehrte, einen schwarzen Widder opfern und dann auf der Haut des¬
selben einschlafen mußte. Die Entstehungszeit der Orakel verliert sich also
in dem fernsten Alterthum, über dem nur ein mythisches Dunkel ruht, und


glaubens wurden Sonnen- und Mondfinsternisse betrachtet, weil man ihre
natürliche Erklärung nicht kannte; deßgleichen schloß man aus dem Wesen
des Windes, aus Blitz, Donner, Erdbeben und anderen Naturerscheinungen
bald auf Glück, bald auf Unglück. Eine große Rolle in der Prophetie der
alten Griechen spielten auch die Träume. Nicht jeder Traum aber
wurde für bedeutsam in Bezug auf zukünftige Ereignisse gehalten, sondern
nur unter gewissen Bedingungen ihm eine solche Bedeutung beigemessen. Er¬
schien z. B. dem Schlafenden im Traume ein Gott, sei es in eigener oder in
angenommener Gestalt, um jenem irgend etwas zu offenbaren, so galt ein
solcher Traum in höchstem Grade für bedeutsam und die Worte des Gottes,
die der Träumende gehört, als untrügliche, unfehlbare Wahrheit. So be¬
wegte der von Zeus gesandte, in Nestors Gestalt dem schlafenden Agamemnon
erscheinende Traumgott letzteren, sofort das Heer zu einer entscheidenden
Schlacht gegen die Trojaner zu rüsten, da die Worte des Traumgottes ihm
Sieg in Aussicht stellten. Auch wenn im Traum ein zukünftiges Ereigniß
als im gegenwärtigen Augenblick eintretend geschaut wurde, so wurde an das
einstige Eintreten desselben mit zweifelloser Gewißheit geglaubt. Hierher ge¬
hört der Traum Alexanders, der ihm als seinen zukünftigen Mörder den
Kassander bezeichnete. Endlich legte man auch solchen Träumen eine tiefere
Bedeutung bei, in denen sich das zukünftige Ereigniß in symbolischer oder
allegorischer Form darstellte. Ein solcher Traum ängstigte nach Sophokles
Elektra die Klytämnestra; der gemordete Gatte, Agamemnon, erschien ihr im
Traume und bohrte den Herrscherstab, den er in der Hand hielt, in den
Heerd des Hauses ein, aus dem dann ein junges, frisches Reis hervorsproßte,
von dem die ganze Stadt Mykenä beschattet ward. Dieser Traum wird von
dem Chor sofort auf blutige Rache gedeutet, die in Orestes, Agamenmons
Sohne, nahe. Auch jener Traum der Hekuba, der Gemahlin des trojanischen
Königs Priamus, aus ihrem Schooße werde ein Feuerbrand geboren, wurde
als allegorisch angesehen und von dem Wahrsager Aesakos dahin erklärt, daß
der erwartete Sohn (es war Paris) dem Reiche den Untergang bereiten werde.

Aus dieser Art der Weissagung, die wohl an einzelnen Personen, keines¬
wegs aber einen bestimmten Ort gebunden war, entstanden nun die Orakel,
deren Eigenthümlichkeit eben darin beruht, daß ihre Weissagungen nur von
einem bestimmten Orte aus ergehen und mit diesem Orte in engster Verbin¬
dung stehen. Schon von einzelnen Sehern wird uns erzählt, daß ihnen nach
ihrem Tode ein eigenes Orakel geweiht wurde, z. B. von Kalchas, dessen
Orakel in Daumen auf dem Hügel Drinn sich befand, wo der, welcher seinen
Rath begehrte, einen schwarzen Widder opfern und dann auf der Haut des¬
selben einschlafen mußte. Die Entstehungszeit der Orakel verliert sich also
in dem fernsten Alterthum, über dem nur ein mythisches Dunkel ruht, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/169>, abgerufen am 27.07.2024.