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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Talent, Klugheit vor Andern hervorragt, wo in schwierigen, verwickelten
Lebensverhältnissen ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löst und
die Wege ebnet, wo in schwärmerischer Begeisterung ein Ausspruch gethan
wird, durch den Zukünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der kindliche
Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menschlichen Persön¬
lichkeit, die der Mund derselben ist, sieht man den Vertrauten, den begnadeten
Liebling höherer Mächte.

Auch die griechische Geschichte berichtet uns vielfach von solchen Männern,
die sich rühmten, von den Göttern erleuchtet zu sein, und die darum in dem
höchsten Ansehen standen, die größten Ehren genossen und einen ganz be¬
deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, sondern auch auf das öffentliche
Leben des Volkes und politische Verhältnisse hatten. Man nannte sie Seher.
-K)re Kunst ist nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche,
ungelernte, infofern sie nicht eines Unterrichts bedarf, auch keine bestimmten
Regeln befolgt, sondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrührt,
"der eine künstliche, die ein gewisses Studium erfordert und erst durch reife
Erfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. -- Eine natür¬
liche Weissagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen¬
blick gleichsam zur Verfügung stehendes Gut, sondern brach nur bisweilen
blitzähnlich, aus unmittelbarer dämonischer Einwirkung herrührend, hervor
Und zwar unter heftigen convulsivischen Zuckungen, in denen sich der von
Dämon Ergriffene wie ein Wahnsinniger geberdete und in einem Zu¬
stande völliger Bewußtlosigkeit bald Worte ausstieß, die man als Worte der
Gottheit selbst ansah, bald durch heftige Geberden den Willen derselben an-,
Mutete. Aus solche Weise weissagten z. B. die Sibyllen, sagenhafte Weiber,
^ren Orakelsprüche bei den Griechen, ganz besonders aber auch bei den
Dörnern*), in dem höchsten Ansehen standen und deren Zahl gewöhnlich auf
^du angegeben wird. Auch Orpheus, der mythische Barde Griechenlands,
stand angeblich in vertrautem Umgang mit den Göttern und wurde ihrer
Offenbarungen gewürdigt, wie er auch durch ihren Beistand viele Wunder¬
te, Krankenheilungen u. s. w. vollbracht haben soll. Ueberhaupt aber
Kurde in den ältesten Zeiten jede Begeisterung, jede höhere Begabung, jedes
"efere Wissen als Ausfluß der Gottheit angesehen und mit dem Namen
"Theomantie" bezeichnet.

Weit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wissen-
^äst ausgebildet, ist jene Art der Weissagung, die wir oben eine künstliche im



H, ') Bekanntlich soll der römische König Tarquinius Superbus drei Bücher sibyllinischer
^ssagungen von einer unbekannten Alten angekauft haben, nachdem dieselbe erst neun, dann
>"es Verbrennung von dreien die andern sechs, und dann nach weiterer Verbrennung von
die letzten drei zu demselben hohen Preise angeboten hatte.

Talent, Klugheit vor Andern hervorragt, wo in schwierigen, verwickelten
Lebensverhältnissen ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löst und
die Wege ebnet, wo in schwärmerischer Begeisterung ein Ausspruch gethan
wird, durch den Zukünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der kindliche
Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menschlichen Persön¬
lichkeit, die der Mund derselben ist, sieht man den Vertrauten, den begnadeten
Liebling höherer Mächte.

Auch die griechische Geschichte berichtet uns vielfach von solchen Männern,
die sich rühmten, von den Göttern erleuchtet zu sein, und die darum in dem
höchsten Ansehen standen, die größten Ehren genossen und einen ganz be¬
deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, sondern auch auf das öffentliche
Leben des Volkes und politische Verhältnisse hatten. Man nannte sie Seher.
-K)re Kunst ist nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche,
ungelernte, infofern sie nicht eines Unterrichts bedarf, auch keine bestimmten
Regeln befolgt, sondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrührt,
"der eine künstliche, die ein gewisses Studium erfordert und erst durch reife
Erfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. — Eine natür¬
liche Weissagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen¬
blick gleichsam zur Verfügung stehendes Gut, sondern brach nur bisweilen
blitzähnlich, aus unmittelbarer dämonischer Einwirkung herrührend, hervor
Und zwar unter heftigen convulsivischen Zuckungen, in denen sich der von
Dämon Ergriffene wie ein Wahnsinniger geberdete und in einem Zu¬
stande völliger Bewußtlosigkeit bald Worte ausstieß, die man als Worte der
Gottheit selbst ansah, bald durch heftige Geberden den Willen derselben an-,
Mutete. Aus solche Weise weissagten z. B. die Sibyllen, sagenhafte Weiber,
^ren Orakelsprüche bei den Griechen, ganz besonders aber auch bei den
Dörnern*), in dem höchsten Ansehen standen und deren Zahl gewöhnlich auf
^du angegeben wird. Auch Orpheus, der mythische Barde Griechenlands,
stand angeblich in vertrautem Umgang mit den Göttern und wurde ihrer
Offenbarungen gewürdigt, wie er auch durch ihren Beistand viele Wunder¬
te, Krankenheilungen u. s. w. vollbracht haben soll. Ueberhaupt aber
Kurde in den ältesten Zeiten jede Begeisterung, jede höhere Begabung, jedes
«efere Wissen als Ausfluß der Gottheit angesehen und mit dem Namen
"Theomantie" bezeichnet.

Weit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wissen-
^äst ausgebildet, ist jene Art der Weissagung, die wir oben eine künstliche im



H, ') Bekanntlich soll der römische König Tarquinius Superbus drei Bücher sibyllinischer
^ssagungen von einer unbekannten Alten angekauft haben, nachdem dieselbe erst neun, dann
>"es Verbrennung von dreien die andern sechs, und dann nach weiterer Verbrennung von
die letzten drei zu demselben hohen Preise angeboten hatte.
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[0167] Talent, Klugheit vor Andern hervorragt, wo in schwierigen, verwickelten Lebensverhältnissen ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löst und die Wege ebnet, wo in schwärmerischer Begeisterung ein Ausspruch gethan wird, durch den Zukünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der kindliche Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menschlichen Persön¬ lichkeit, die der Mund derselben ist, sieht man den Vertrauten, den begnadeten Liebling höherer Mächte. Auch die griechische Geschichte berichtet uns vielfach von solchen Männern, die sich rühmten, von den Göttern erleuchtet zu sein, und die darum in dem höchsten Ansehen standen, die größten Ehren genossen und einen ganz be¬ deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, sondern auch auf das öffentliche Leben des Volkes und politische Verhältnisse hatten. Man nannte sie Seher. -K)re Kunst ist nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche, ungelernte, infofern sie nicht eines Unterrichts bedarf, auch keine bestimmten Regeln befolgt, sondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrührt, "der eine künstliche, die ein gewisses Studium erfordert und erst durch reife Erfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. — Eine natür¬ liche Weissagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen¬ blick gleichsam zur Verfügung stehendes Gut, sondern brach nur bisweilen blitzähnlich, aus unmittelbarer dämonischer Einwirkung herrührend, hervor Und zwar unter heftigen convulsivischen Zuckungen, in denen sich der von Dämon Ergriffene wie ein Wahnsinniger geberdete und in einem Zu¬ stande völliger Bewußtlosigkeit bald Worte ausstieß, die man als Worte der Gottheit selbst ansah, bald durch heftige Geberden den Willen derselben an-, Mutete. Aus solche Weise weissagten z. B. die Sibyllen, sagenhafte Weiber, ^ren Orakelsprüche bei den Griechen, ganz besonders aber auch bei den Dörnern*), in dem höchsten Ansehen standen und deren Zahl gewöhnlich auf ^du angegeben wird. Auch Orpheus, der mythische Barde Griechenlands, stand angeblich in vertrautem Umgang mit den Göttern und wurde ihrer Offenbarungen gewürdigt, wie er auch durch ihren Beistand viele Wunder¬ te, Krankenheilungen u. s. w. vollbracht haben soll. Ueberhaupt aber Kurde in den ältesten Zeiten jede Begeisterung, jede höhere Begabung, jedes «efere Wissen als Ausfluß der Gottheit angesehen und mit dem Namen "Theomantie" bezeichnet. Weit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wissen- ^äst ausgebildet, ist jene Art der Weissagung, die wir oben eine künstliche im H, ') Bekanntlich soll der römische König Tarquinius Superbus drei Bücher sibyllinischer ^ssagungen von einer unbekannten Alten angekauft haben, nachdem dieselbe erst neun, dann >"es Verbrennung von dreien die andern sechs, und dann nach weiterer Verbrennung von die letzten drei zu demselben hohen Preise angeboten hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/167>, abgerufen am 27.07.2024.