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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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manu, der die Tausenden verborgenen Fäden der Diplomatie in seiner Hand
hält, mehr weiß von der zukünftigen Gestaltung des politischen Lebens, als
andere, diesen höheren- Regionen ferner stehende Sterbliche. Oder daß aus
natürlichen Anzeichen die Witterung des folgenden Tages sich bestimmen
läßt, ist doch noch kein Zukunftsblick, und auch da bleibt die Möglichkeit,
daß ein unbeachteter Factor die ganze Berechnung als falsch erweist und ein
unvorhergesehenes Ereigniß der ganzen Sache eine von der erwartenden ganz
abweichende Wendung giebt. Und wenn du auch glaubst, mit völliger Ge¬
wißheit auf das zukünftige Verhalten selbst eines dir nahe Stehenden schließen
zu können, so wirst du doch oft erfahren müssen, daß das menschliche Herz
ein Factor ist, mit dem sich schwer rechnen läßt, der eben unberechenbar ist.
Aber von Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsrechnungen ist auch nicht die
Rede, sondern die Frage stellt sich so: giebt es ein Wissen um die Zukunft,
welches nicht der Vermittlung durch gegenwärtige Verhältnisse bedarf? Kann
ein Mensch die zukünftige Gestaltung von Dingen schauen, deren gegen¬
wärtiger Stand ihm völlig unbekannt ist? Wir können auf diese Frage nur
mit einem entschiedenen "Nein" antworten und höchstens das Vorkommen
von Ahnungen und dunklen Vorgefühlen zugeben, und je größer die Auf¬
klärung und je weiter die Fortschritte des Geistes, desto williger wird jenes
"Nein" zu geben sein. Freilich so lange der Mensch noch in dem Zustande
des rohen Naturkindes lebt, welches von den festen, ewigen, wandellosen Ge¬
setzen nichts weiß, nach denen alles natürliche Leben sich entwickelt, dessen
Phantasie das Auffallende, Außerordentliche gleich als das Wunderbare auf¬
faßt und dieses Wunderbare liebt und geflissentlich aufsucht, und dessen kind¬
licher Sinn alle Erscheinungen des Lebens, die sein in engen Grenzen sich
bewegender Geist nicht erklären kann, als unmittelbare, den Gang der Natur
durchbrechende Einwirkungen höherer Mächte und dämonischer Kräfte ansieht,
so lange wird auch die natürliche Consequenz nicht ausbleiben, nämlich solche"
auffallenden, unerklärten Ereignissen einen entscheidenden Einfluß auf zukünftige
Begebenheiten zuzuschreiben und in ihnen Vorbedeutungen dessen zu sehen,
was noch kommen soll. Ja je näher die Dinge dem Menschen stehen, an
denen sich solches Auffällige zeigt, um so gewisser wird in letzterem das Be¬
deutsame und die Zukunft Bestimmende erkannt, so daß ein besonderes, un¬
gewöhnliches Verhalten von Thieren, ein Traum, ein merkwürdiges Zusammen¬
treffen von wesentlichen oder unwesentlichen Begebenheiten die bedeutungsvollsten
Momente für die Auslegung der Zukunft abgeben müssen. Aber nicht jedem
Sterblichen, so urtheilt der kindliche Glaube, ist es beschieden, solche Zeichen
zu deuten und auf die gegebenen Verhältnisse anzuwenden; sondern die Gott"
heit wählt sich ihre Organe aus, auf die sie einwirkt, aus denen sie selbst
spricht, durch die sie sich offenbart, und wo dann ein Mensch an Geist,


manu, der die Tausenden verborgenen Fäden der Diplomatie in seiner Hand
hält, mehr weiß von der zukünftigen Gestaltung des politischen Lebens, als
andere, diesen höheren- Regionen ferner stehende Sterbliche. Oder daß aus
natürlichen Anzeichen die Witterung des folgenden Tages sich bestimmen
läßt, ist doch noch kein Zukunftsblick, und auch da bleibt die Möglichkeit,
daß ein unbeachteter Factor die ganze Berechnung als falsch erweist und ein
unvorhergesehenes Ereigniß der ganzen Sache eine von der erwartenden ganz
abweichende Wendung giebt. Und wenn du auch glaubst, mit völliger Ge¬
wißheit auf das zukünftige Verhalten selbst eines dir nahe Stehenden schließen
zu können, so wirst du doch oft erfahren müssen, daß das menschliche Herz
ein Factor ist, mit dem sich schwer rechnen läßt, der eben unberechenbar ist.
Aber von Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsrechnungen ist auch nicht die
Rede, sondern die Frage stellt sich so: giebt es ein Wissen um die Zukunft,
welches nicht der Vermittlung durch gegenwärtige Verhältnisse bedarf? Kann
ein Mensch die zukünftige Gestaltung von Dingen schauen, deren gegen¬
wärtiger Stand ihm völlig unbekannt ist? Wir können auf diese Frage nur
mit einem entschiedenen „Nein" antworten und höchstens das Vorkommen
von Ahnungen und dunklen Vorgefühlen zugeben, und je größer die Auf¬
klärung und je weiter die Fortschritte des Geistes, desto williger wird jenes
„Nein" zu geben sein. Freilich so lange der Mensch noch in dem Zustande
des rohen Naturkindes lebt, welches von den festen, ewigen, wandellosen Ge¬
setzen nichts weiß, nach denen alles natürliche Leben sich entwickelt, dessen
Phantasie das Auffallende, Außerordentliche gleich als das Wunderbare auf¬
faßt und dieses Wunderbare liebt und geflissentlich aufsucht, und dessen kind¬
licher Sinn alle Erscheinungen des Lebens, die sein in engen Grenzen sich
bewegender Geist nicht erklären kann, als unmittelbare, den Gang der Natur
durchbrechende Einwirkungen höherer Mächte und dämonischer Kräfte ansieht,
so lange wird auch die natürliche Consequenz nicht ausbleiben, nämlich solche»
auffallenden, unerklärten Ereignissen einen entscheidenden Einfluß auf zukünftige
Begebenheiten zuzuschreiben und in ihnen Vorbedeutungen dessen zu sehen,
was noch kommen soll. Ja je näher die Dinge dem Menschen stehen, an
denen sich solches Auffällige zeigt, um so gewisser wird in letzterem das Be¬
deutsame und die Zukunft Bestimmende erkannt, so daß ein besonderes, un¬
gewöhnliches Verhalten von Thieren, ein Traum, ein merkwürdiges Zusammen¬
treffen von wesentlichen oder unwesentlichen Begebenheiten die bedeutungsvollsten
Momente für die Auslegung der Zukunft abgeben müssen. Aber nicht jedem
Sterblichen, so urtheilt der kindliche Glaube, ist es beschieden, solche Zeichen
zu deuten und auf die gegebenen Verhältnisse anzuwenden; sondern die Gott"
heit wählt sich ihre Organe aus, auf die sie einwirkt, aus denen sie selbst
spricht, durch die sie sich offenbart, und wo dann ein Mensch an Geist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/166>, abgerufen am 28.12.2024.