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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Felskolosse der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der sogenannte
Große Mythen, ist eine der barocksten und imposantesten Erscheinungen der
Schweiz. Daß der nach allen Seiten freiliegende schmale stumpfe Hügel, mit
welchem er abschließt, eine großartige Aussicht gewähren müsse, sieht man auf
den ersten Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touristen
für kaum oder doch sehr schwer ersteigbar. Inzwischen hat der schweizerische
Alpenkind einen regelrechten Weg hinaufbahnen lassen und seit diesem
Sommer hat der Berg begonnen, die wandernde Menschheit zu interessiren.
Auch ich vermochte, nachdem ich mir den wunderlichen Gesellen von Brunnen
aus einige Tage angesehen, der Versuchung nicht zu widerstehen. Am Mor¬
gen des 8. September machte ich mich auf den Weg. Es war der Tag
Maria Geburt. Freundlich lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher
Glockenklang hallte durch das gesegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen-
bohl, Jbach und Rickenbach hatte ich bald im Rücken; jetzt ging's steil hin¬
auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eines Wäldchens traf ich auf ein
einsames Bauernhaus. Ein allerliebstes Blondköpfchen, ein Mädchen von
4--5 Jahren, lag im Fenster; rasch hatte es den älteren Bruder herbei¬
gerufen. Ich erwartete nicht anders, als daß sie schleunigst herbeieilen
und mich anbetteln würden. Wie war ich beschämt, als sie ruhig an ihrem
erhabenen Standorte blieben, sich aber um die Wette bemühten, mich über
den Weg zu unterrichten! Ueberhaupt ist das eine wohlthuende Bemerkung,
die man im Kanton Schwyz macht: es wird nicht gebettelt. Auch drängen
sich die Leute, abgesehen von den Schiffern und Kutschern in Brunnen, mit
ihren Diensten nicht auf; die Bevölkerung ist durchweg höflich und gibt auf
Fragen freundlich Bescheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö¬
ßeren Wohlhabenheit zusammen, mit welcher die Natur diesen Kanton vor
andern Gebirgskantonen ausgezeichnet hat.

Bon Nickenbach bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nach Ein¬
siedeln führenden Passes, ist der Weg herzlich schlecht, meistens ganz abscheu¬
liches Geröll. Dennoch wurde mir leichter und leichter ums Herz. Im
herrlichsten Grün breiteten sich die Matten, von allen Seiten tönte das Ge¬
läut der Herden, die Hirten bliesen lustig das Alphorn. Und das Alles
durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die ausgestreckte Hand eines
Wegelagerers mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ge¬
waltige Pyramide des Mythen; jetzt'zeigte sich auch der Zickzackweg, der mir
das Räthsel entzifferte, wie an der schroffen Bergwand überhaupt hinaufzu¬
kommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtsein brachte, was es noch zu
leisten galt. Ich kam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die
frisch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durst war groß und nicht geringer
mein Hunger; nicht umsonst aber hatte ich im Bädeker gelesen, daß auf der


Felskolosse der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der sogenannte
Große Mythen, ist eine der barocksten und imposantesten Erscheinungen der
Schweiz. Daß der nach allen Seiten freiliegende schmale stumpfe Hügel, mit
welchem er abschließt, eine großartige Aussicht gewähren müsse, sieht man auf
den ersten Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touristen
für kaum oder doch sehr schwer ersteigbar. Inzwischen hat der schweizerische
Alpenkind einen regelrechten Weg hinaufbahnen lassen und seit diesem
Sommer hat der Berg begonnen, die wandernde Menschheit zu interessiren.
Auch ich vermochte, nachdem ich mir den wunderlichen Gesellen von Brunnen
aus einige Tage angesehen, der Versuchung nicht zu widerstehen. Am Mor¬
gen des 8. September machte ich mich auf den Weg. Es war der Tag
Maria Geburt. Freundlich lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher
Glockenklang hallte durch das gesegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen-
bohl, Jbach und Rickenbach hatte ich bald im Rücken; jetzt ging's steil hin¬
auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eines Wäldchens traf ich auf ein
einsames Bauernhaus. Ein allerliebstes Blondköpfchen, ein Mädchen von
4—5 Jahren, lag im Fenster; rasch hatte es den älteren Bruder herbei¬
gerufen. Ich erwartete nicht anders, als daß sie schleunigst herbeieilen
und mich anbetteln würden. Wie war ich beschämt, als sie ruhig an ihrem
erhabenen Standorte blieben, sich aber um die Wette bemühten, mich über
den Weg zu unterrichten! Ueberhaupt ist das eine wohlthuende Bemerkung,
die man im Kanton Schwyz macht: es wird nicht gebettelt. Auch drängen
sich die Leute, abgesehen von den Schiffern und Kutschern in Brunnen, mit
ihren Diensten nicht auf; die Bevölkerung ist durchweg höflich und gibt auf
Fragen freundlich Bescheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö¬
ßeren Wohlhabenheit zusammen, mit welcher die Natur diesen Kanton vor
andern Gebirgskantonen ausgezeichnet hat.

Bon Nickenbach bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nach Ein¬
siedeln führenden Passes, ist der Weg herzlich schlecht, meistens ganz abscheu¬
liches Geröll. Dennoch wurde mir leichter und leichter ums Herz. Im
herrlichsten Grün breiteten sich die Matten, von allen Seiten tönte das Ge¬
läut der Herden, die Hirten bliesen lustig das Alphorn. Und das Alles
durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die ausgestreckte Hand eines
Wegelagerers mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ge¬
waltige Pyramide des Mythen; jetzt'zeigte sich auch der Zickzackweg, der mir
das Räthsel entzifferte, wie an der schroffen Bergwand überhaupt hinaufzu¬
kommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtsein brachte, was es noch zu
leisten galt. Ich kam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die
frisch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durst war groß und nicht geringer
mein Hunger; nicht umsonst aber hatte ich im Bädeker gelesen, daß auf der


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[0162] Felskolosse der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der sogenannte Große Mythen, ist eine der barocksten und imposantesten Erscheinungen der Schweiz. Daß der nach allen Seiten freiliegende schmale stumpfe Hügel, mit welchem er abschließt, eine großartige Aussicht gewähren müsse, sieht man auf den ersten Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touristen für kaum oder doch sehr schwer ersteigbar. Inzwischen hat der schweizerische Alpenkind einen regelrechten Weg hinaufbahnen lassen und seit diesem Sommer hat der Berg begonnen, die wandernde Menschheit zu interessiren. Auch ich vermochte, nachdem ich mir den wunderlichen Gesellen von Brunnen aus einige Tage angesehen, der Versuchung nicht zu widerstehen. Am Mor¬ gen des 8. September machte ich mich auf den Weg. Es war der Tag Maria Geburt. Freundlich lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher Glockenklang hallte durch das gesegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen- bohl, Jbach und Rickenbach hatte ich bald im Rücken; jetzt ging's steil hin¬ auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eines Wäldchens traf ich auf ein einsames Bauernhaus. Ein allerliebstes Blondköpfchen, ein Mädchen von 4—5 Jahren, lag im Fenster; rasch hatte es den älteren Bruder herbei¬ gerufen. Ich erwartete nicht anders, als daß sie schleunigst herbeieilen und mich anbetteln würden. Wie war ich beschämt, als sie ruhig an ihrem erhabenen Standorte blieben, sich aber um die Wette bemühten, mich über den Weg zu unterrichten! Ueberhaupt ist das eine wohlthuende Bemerkung, die man im Kanton Schwyz macht: es wird nicht gebettelt. Auch drängen sich die Leute, abgesehen von den Schiffern und Kutschern in Brunnen, mit ihren Diensten nicht auf; die Bevölkerung ist durchweg höflich und gibt auf Fragen freundlich Bescheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö¬ ßeren Wohlhabenheit zusammen, mit welcher die Natur diesen Kanton vor andern Gebirgskantonen ausgezeichnet hat. Bon Nickenbach bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nach Ein¬ siedeln führenden Passes, ist der Weg herzlich schlecht, meistens ganz abscheu¬ liches Geröll. Dennoch wurde mir leichter und leichter ums Herz. Im herrlichsten Grün breiteten sich die Matten, von allen Seiten tönte das Ge¬ läut der Herden, die Hirten bliesen lustig das Alphorn. Und das Alles durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die ausgestreckte Hand eines Wegelagerers mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ge¬ waltige Pyramide des Mythen; jetzt'zeigte sich auch der Zickzackweg, der mir das Räthsel entzifferte, wie an der schroffen Bergwand überhaupt hinaufzu¬ kommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtsein brachte, was es noch zu leisten galt. Ich kam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die frisch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durst war groß und nicht geringer mein Hunger; nicht umsonst aber hatte ich im Bädeker gelesen, daß auf der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/162>, abgerufen am 29.12.2024.