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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Holzegg ein treffliches Wirthshaus zu finden. Also bezwang ich meine Be¬
gierde. Sehr erschöpft erreichte ich die Paßhöhe. Das Wirthshaus war da,
aber die Thüren verschlossen. Bon der Seite der Mythen her rief eine un¬
sichtbare Stimme: "Sind Alle nach Schwyz zur Kirche." Nie in meinem
Leben habe ich mich bitterer enttäuscht gefühlt. Die Zunge klebte mir am
Gaumen. In diesem Zustande noch die 1^ Stunde steilen Steigens an
schroffen Abhängen hin. in glühender Sonnenhitze! Und wie, wenn der In¬
haber der Hütte auf der Spitze des Mythen etwa auch zur Kirche war!
Indeß, nach kurzer Rast ging ich muthig ans Werk. Ein prächtiger Weg!
-- sehr steil allerdings und für leicht zum Schwindel geneigte Personen nicht
ohne Führer rathsam, aber in ganz ungeahnter Weise überraschend. Mit
jedem Augenblicke erweitert sich der Horizont. Zuerst tritt der Glärnisch
hervor, dann die Tödigruppe; später öffnet eine Wendung den Blick nach
Nordosten, der Säntis und die Schwarzwaldkette werden sichtbar, bis endlich,
von der Spitze aus betrachtet, die Bogesen, der Jura, die Kette des Berner
Oberlandes, die Unterwaldener und Urner Alpen und die Gotthardtgruppe
die Rundsicht vollenden. Aber es dauerte eine gute Weile, ehe ich soweit
gedieh. Mehr als einmal mußte ich mich platt auf den Pfad legen, weil
mir die Knie zu wanken begannen. Endlich war das Ziel erreicht. Freudig
begrüßte mich der wackere Eidgenosse, der dort oben in dürftiger Bretterbude
haust und sofort hißte er eine große weiße Flagge, damit auch die übrige
Welt wisse, daß es wieder einmal ein Sterblicher der Mühe werth gehalten,
die steile Höhe zu erklimmen. Der Wirth -- eigentlich ein simpler Haus¬
knecht des Hotel Bellevue in Rickenbach, früher in Diensten bei einer
französischen Familie, in welcher Stellung er während des Kriegs als
Dolmetsch, resp, als Besänftiger der deutschen Barbaren dienen mußte --
Zeigte das erfreuliche Verständniß für meine Lage; Dank seinem staunenswerthen
culinarischer Geschick und dem nicht genug zu rühmenden Inhalte seines
Kellers war ich in meiner Menschenwürde soweit restaurirt, daß ich mich ganz
M das grandiose Schauspiel ringsum versenken konnte. Die Aussicht des
Mythen übertrifft nicht nur die des Rigi, sondern auch die des Pilatus. Hat
der letztere das Berner Oberland näher, so dieser die Glarner und Grau-
bündner Alpen; gar weit aber läßt der Mythen seine beiden Rivalen in Be¬
treff des Vordergrundes hinter sich zurück. Hier kommt ihm seine vollkommene
Äsolirtheit zu Statten; der fast senkrecht aufsteigende Berg hat aus seinem
GiM nicht Raum für 100 Menschen. So schwebt der Beschauer förmlich
^ der Luft. Höchst großartig und lieblich zugleich ist besonders der Blick
Aaas der Seite des Merwaldstättersees. Aus einer Höhe von 4000 Fuß schaut
^an auf Schwyz hinunter und auf das lachende Gefilde, vom Silberstreifen
Muotta durchzogen, dann erglänzt der See von Fluelen bis über Buochs


Holzegg ein treffliches Wirthshaus zu finden. Also bezwang ich meine Be¬
gierde. Sehr erschöpft erreichte ich die Paßhöhe. Das Wirthshaus war da,
aber die Thüren verschlossen. Bon der Seite der Mythen her rief eine un¬
sichtbare Stimme: „Sind Alle nach Schwyz zur Kirche." Nie in meinem
Leben habe ich mich bitterer enttäuscht gefühlt. Die Zunge klebte mir am
Gaumen. In diesem Zustande noch die 1^ Stunde steilen Steigens an
schroffen Abhängen hin. in glühender Sonnenhitze! Und wie, wenn der In¬
haber der Hütte auf der Spitze des Mythen etwa auch zur Kirche war!
Indeß, nach kurzer Rast ging ich muthig ans Werk. Ein prächtiger Weg!
— sehr steil allerdings und für leicht zum Schwindel geneigte Personen nicht
ohne Führer rathsam, aber in ganz ungeahnter Weise überraschend. Mit
jedem Augenblicke erweitert sich der Horizont. Zuerst tritt der Glärnisch
hervor, dann die Tödigruppe; später öffnet eine Wendung den Blick nach
Nordosten, der Säntis und die Schwarzwaldkette werden sichtbar, bis endlich,
von der Spitze aus betrachtet, die Bogesen, der Jura, die Kette des Berner
Oberlandes, die Unterwaldener und Urner Alpen und die Gotthardtgruppe
die Rundsicht vollenden. Aber es dauerte eine gute Weile, ehe ich soweit
gedieh. Mehr als einmal mußte ich mich platt auf den Pfad legen, weil
mir die Knie zu wanken begannen. Endlich war das Ziel erreicht. Freudig
begrüßte mich der wackere Eidgenosse, der dort oben in dürftiger Bretterbude
haust und sofort hißte er eine große weiße Flagge, damit auch die übrige
Welt wisse, daß es wieder einmal ein Sterblicher der Mühe werth gehalten,
die steile Höhe zu erklimmen. Der Wirth — eigentlich ein simpler Haus¬
knecht des Hotel Bellevue in Rickenbach, früher in Diensten bei einer
französischen Familie, in welcher Stellung er während des Kriegs als
Dolmetsch, resp, als Besänftiger der deutschen Barbaren dienen mußte —
Zeigte das erfreuliche Verständniß für meine Lage; Dank seinem staunenswerthen
culinarischer Geschick und dem nicht genug zu rühmenden Inhalte seines
Kellers war ich in meiner Menschenwürde soweit restaurirt, daß ich mich ganz
M das grandiose Schauspiel ringsum versenken konnte. Die Aussicht des
Mythen übertrifft nicht nur die des Rigi, sondern auch die des Pilatus. Hat
der letztere das Berner Oberland näher, so dieser die Glarner und Grau-
bündner Alpen; gar weit aber läßt der Mythen seine beiden Rivalen in Be¬
treff des Vordergrundes hinter sich zurück. Hier kommt ihm seine vollkommene
Äsolirtheit zu Statten; der fast senkrecht aufsteigende Berg hat aus seinem
GiM nicht Raum für 100 Menschen. So schwebt der Beschauer förmlich
^ der Luft. Höchst großartig und lieblich zugleich ist besonders der Blick
Aaas der Seite des Merwaldstättersees. Aus einer Höhe von 4000 Fuß schaut
^an auf Schwyz hinunter und auf das lachende Gefilde, vom Silberstreifen
Muotta durchzogen, dann erglänzt der See von Fluelen bis über Buochs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/163>, abgerufen am 28.12.2024.