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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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an. Der ältere der beiden Herren, ein Sechziger, dessen freundliches, frisches
Gesicht doch die unverkennbaren Spuren tüchtiger Geistesarbeit trug, war
heiter und gesprächig; aber die Unterhaltung drehte sich um gleichgültige
Dinge. Erst zwischen Gemüse und Braten, als wir Külturkämpfer nach
echter deutscher Sitte in des Franzmanns schäumendem Tränke unserer bis
dahin verhaltenen Feststimmung Ausdruck zu geben begannen, gewann die
Situation eine interessantere Gestalt. Was werden sie thun? dachten wir
Beide. Werden sie unsere patriotische Demonstration ignoriren? werden sie
sich, im Geiste des Heiligen von Mainz, mit Abscheu hinwegwenden von den
Versuchern? Oder werden sie am Ende gar--? Der Alte pflog kurzen
^ath mit seinem Gefährten, gab dem Kellner einen Wink und wenige Se¬
kunden später prangte vor ihnen der silberne Kübel mit der eisbedeckten
Rasche. Und nun klangen unsere Gläser lustig aneinander auf das Wohl
des theuren Vaterlandes und ungezwungen tauschten wir fortab muntere
Rede. Längst hatte der weite Saal sich geleert, als wir uns unter kräftigem
Händedruck Lebewohl sagten, der Alle nicht anders, als unter der herzlichsten
Einladung, ihn gelegentlich an seinem Wohnsitz zu besuchen. Jetzt kannten
Kir seinen Namen. Er ist noch vor kurzer Zeit oft als Candidat für eine
der höchsten Prälatenstellen im Deutschen Reich genannt worden. -- Ich muß
Wehen, als ich, den frischen Eindruck dieses Tischerlebnisses in der Seele,
Unter der Veranda den Kaffee schlürfte, die Augen verloren in der feierlichen
Majestät der Jungfrau, da beschlich mich die melancholische Frage: "Warum
^es streiten sich die Menschen?" Wohl schüttelte ich nach und nach diese
Naive Stimmung wieder ab; aber mir blieb das Gefühl, eine Sedanfeier
^lebt zu haben, wie ich sie mir nicht schöner hätte wünschen können. Und
°as danke ich der neutralen Schweiz!--

Das Berner Oberland ist von jeher der Brennpunkt des Touristen-
^rkehrs gewesen. Sein Vorzug, den Wanderer bei verhältnißmäßig geringer
Anstrengung in die nächste Berührung mit der ganzen Großartigkeit der
^etscherwelt gelangen zu lassen, macht das erklärlich. Darum hat aber auch
^me andere Gegend der Schweiz so sehr ihre Existenz auf den Fremdenbesuch
^gründet. Was bliebe von Jnterlaken. Grindelwald. Lauterbrunnen übrig,
^Nu plötzlich diese Erwerbsquelle versiegte? Die Ausnutzung derselben ist
mit raffinirtester Berechnung betriebene Industrie geworden, an welcher
^ ganze Bevölkerung bis in die untersten Schichten theilnimmt. Sogar
°^ Vettel, zu welchem die Versuchung für das blutarme Gebirgsproletariat
^ nur zu nahe liegt, wird, seitdem die Berner Regierung strenge Verbote
lassen, durchweg in industriellen Formen ausgeübt. Während man in Uri
"°es jeden Augenblick von Kindern und halbwüchsigen Mädchen mit koketten
dicken und Kußhänden direct um ein Almosen angegangen wird, ist im


an. Der ältere der beiden Herren, ein Sechziger, dessen freundliches, frisches
Gesicht doch die unverkennbaren Spuren tüchtiger Geistesarbeit trug, war
heiter und gesprächig; aber die Unterhaltung drehte sich um gleichgültige
Dinge. Erst zwischen Gemüse und Braten, als wir Külturkämpfer nach
echter deutscher Sitte in des Franzmanns schäumendem Tränke unserer bis
dahin verhaltenen Feststimmung Ausdruck zu geben begannen, gewann die
Situation eine interessantere Gestalt. Was werden sie thun? dachten wir
Beide. Werden sie unsere patriotische Demonstration ignoriren? werden sie
sich, im Geiste des Heiligen von Mainz, mit Abscheu hinwegwenden von den
Versuchern? Oder werden sie am Ende gar--? Der Alte pflog kurzen
^ath mit seinem Gefährten, gab dem Kellner einen Wink und wenige Se¬
kunden später prangte vor ihnen der silberne Kübel mit der eisbedeckten
Rasche. Und nun klangen unsere Gläser lustig aneinander auf das Wohl
des theuren Vaterlandes und ungezwungen tauschten wir fortab muntere
Rede. Längst hatte der weite Saal sich geleert, als wir uns unter kräftigem
Händedruck Lebewohl sagten, der Alle nicht anders, als unter der herzlichsten
Einladung, ihn gelegentlich an seinem Wohnsitz zu besuchen. Jetzt kannten
Kir seinen Namen. Er ist noch vor kurzer Zeit oft als Candidat für eine
der höchsten Prälatenstellen im Deutschen Reich genannt worden. — Ich muß
Wehen, als ich, den frischen Eindruck dieses Tischerlebnisses in der Seele,
Unter der Veranda den Kaffee schlürfte, die Augen verloren in der feierlichen
Majestät der Jungfrau, da beschlich mich die melancholische Frage: „Warum
^es streiten sich die Menschen?" Wohl schüttelte ich nach und nach diese
Naive Stimmung wieder ab; aber mir blieb das Gefühl, eine Sedanfeier
^lebt zu haben, wie ich sie mir nicht schöner hätte wünschen können. Und
°as danke ich der neutralen Schweiz!--

Das Berner Oberland ist von jeher der Brennpunkt des Touristen-
^rkehrs gewesen. Sein Vorzug, den Wanderer bei verhältnißmäßig geringer
Anstrengung in die nächste Berührung mit der ganzen Großartigkeit der
^etscherwelt gelangen zu lassen, macht das erklärlich. Darum hat aber auch
^me andere Gegend der Schweiz so sehr ihre Existenz auf den Fremdenbesuch
^gründet. Was bliebe von Jnterlaken. Grindelwald. Lauterbrunnen übrig,
^Nu plötzlich diese Erwerbsquelle versiegte? Die Ausnutzung derselben ist
mit raffinirtester Berechnung betriebene Industrie geworden, an welcher
^ ganze Bevölkerung bis in die untersten Schichten theilnimmt. Sogar
°^ Vettel, zu welchem die Versuchung für das blutarme Gebirgsproletariat
^ nur zu nahe liegt, wird, seitdem die Berner Regierung strenge Verbote
lassen, durchweg in industriellen Formen ausgeübt. Während man in Uri
"°es jeden Augenblick von Kindern und halbwüchsigen Mädchen mit koketten
dicken und Kußhänden direct um ein Almosen angegangen wird, ist im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/159>, abgerufen am 01.09.2024.