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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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und den großen Krieg mit dem Süden unter Lincoln. Für Amerika bezeich¬
net der Uebergang von der Post zur Eisenbahn, von der Post zur Telegraphie
ooch in ganz anderem Sinne den Eintritt in die neue Zeit, als für uns alt¬
eingesessene Völker Europas. Denn erst von jener Epoche ab ist der größere
Theil der Union dem modernen Verkehr erschlossen worden. Es ist daher auch
für die amerikanische Auffassung dieser Neuerung höchst charakteristisch. wenn
Aldrich an einer vormaligen PostHerberge der Union, "der alten Schenke an
Bailey's Kreuzweg" zum ersten Mal seit dreißig Jahren am Anfang dieses
Jahrzehnts einen Gast vorsprechen läßt, und wenn er dem einzigen Stamm¬
gast dieser Schenke, trotz der enormen Masse von Zeitungen und Zeitschriften,
die er sich hält. Muße genug zugesteht, um das Wahnbild "Andchens" . des
elfjährigen ungeborenen Sohnes der Jungfrau Mehetabel. in seiner Phantasie
Zu erzeitigen. -- Der Krieg der Union mit den Südstaaten spielt in drei der
Erzählungen seine Rolle, in "Prüdence Palfrey", im "Roman in River-
mouth". und "Ganz recht". In jedem dieser Fälle ist die Erinnerung an
den seit beinahe hundert Jahren größten Nationalkrieg der Union in höchst
eigenthümlicher Weise wachgerufen, Jedesmal nämlich lassen sich bei Aldrich
erst dann die Leute mit Handgeld zum Sternenbanner werben, wenn sie gar
nichts anderes mehr auf der Welt zu thun wissen, um sich zu erhalten, oder
um zu vergessen. Der Beifall, den auch diese "Novels" Aldrich's in seinem
Vaterlande gefunden haben, ist Beweis genug, daß diese Art von Verwendung
des Unionskriegs in seinen Novellen ihm vom nationalen Standpunkt aus
nicht verübelt worden, daß ein großer Theil seiner Landsleute sie der Wahr¬
heit verwandt hält. Darin liegt für uns Deutsche eine große Genugthuung.
Bei uns würde der Schriftsteller, der consequent nur verzweifelte Existenzen
unsern Fahnen zuweisen wollte, der einmüthigen Entrüstung der Nation be¬
gegnen, weil eine solche Darstellung mit der Wahrheit in den schreiendsten
Conflict träte. Für das Milizsystem kann es keine vollständigere Jmpotenz-
erklärung geben, als die Motive, welche die drei Helden Aldrich's bewegen,
Handgeld zu nehmen. Unsrer Fahnenehre wäre der Gedanke des Handgeldes
schon unerträglich. --

Der Leser mag diese Betrachtung vielleicht zu ernst nennen, wo es sich
um die Beurtheilung humoristischer Produktion handelt. Aber unwillkürlich
wird sie Jedem sich aufdrängen, der Aldrich mit Aufmerksamkeit liest. Nur
soll hier dieser Gedanke nicht weiter verfolgt und auch nicht -- so nahe das
läge -- in Verbindung gebracht werden mit der Frage, ob nicht das un¬
bändige Freiheitsgefühl oder besser die gänzliche Entwöhnung von jedem
energischen Zwang, den uns Aldrich in seiner Skizze "ein junger Raufbold"
so köstlich personifizirt, schuld daran ist an diesem und den meisten anderen
Gebrechen, welche die Union heute zur Schau trägt. Die Verfolgung dieser


und den großen Krieg mit dem Süden unter Lincoln. Für Amerika bezeich¬
net der Uebergang von der Post zur Eisenbahn, von der Post zur Telegraphie
ooch in ganz anderem Sinne den Eintritt in die neue Zeit, als für uns alt¬
eingesessene Völker Europas. Denn erst von jener Epoche ab ist der größere
Theil der Union dem modernen Verkehr erschlossen worden. Es ist daher auch
für die amerikanische Auffassung dieser Neuerung höchst charakteristisch. wenn
Aldrich an einer vormaligen PostHerberge der Union, „der alten Schenke an
Bailey's Kreuzweg" zum ersten Mal seit dreißig Jahren am Anfang dieses
Jahrzehnts einen Gast vorsprechen läßt, und wenn er dem einzigen Stamm¬
gast dieser Schenke, trotz der enormen Masse von Zeitungen und Zeitschriften,
die er sich hält. Muße genug zugesteht, um das Wahnbild „Andchens" . des
elfjährigen ungeborenen Sohnes der Jungfrau Mehetabel. in seiner Phantasie
Zu erzeitigen. — Der Krieg der Union mit den Südstaaten spielt in drei der
Erzählungen seine Rolle, in „Prüdence Palfrey", im „Roman in River-
mouth". und „Ganz recht". In jedem dieser Fälle ist die Erinnerung an
den seit beinahe hundert Jahren größten Nationalkrieg der Union in höchst
eigenthümlicher Weise wachgerufen, Jedesmal nämlich lassen sich bei Aldrich
erst dann die Leute mit Handgeld zum Sternenbanner werben, wenn sie gar
nichts anderes mehr auf der Welt zu thun wissen, um sich zu erhalten, oder
um zu vergessen. Der Beifall, den auch diese „Novels" Aldrich's in seinem
Vaterlande gefunden haben, ist Beweis genug, daß diese Art von Verwendung
des Unionskriegs in seinen Novellen ihm vom nationalen Standpunkt aus
nicht verübelt worden, daß ein großer Theil seiner Landsleute sie der Wahr¬
heit verwandt hält. Darin liegt für uns Deutsche eine große Genugthuung.
Bei uns würde der Schriftsteller, der consequent nur verzweifelte Existenzen
unsern Fahnen zuweisen wollte, der einmüthigen Entrüstung der Nation be¬
gegnen, weil eine solche Darstellung mit der Wahrheit in den schreiendsten
Conflict träte. Für das Milizsystem kann es keine vollständigere Jmpotenz-
erklärung geben, als die Motive, welche die drei Helden Aldrich's bewegen,
Handgeld zu nehmen. Unsrer Fahnenehre wäre der Gedanke des Handgeldes
schon unerträglich. —

Der Leser mag diese Betrachtung vielleicht zu ernst nennen, wo es sich
um die Beurtheilung humoristischer Produktion handelt. Aber unwillkürlich
wird sie Jedem sich aufdrängen, der Aldrich mit Aufmerksamkeit liest. Nur
soll hier dieser Gedanke nicht weiter verfolgt und auch nicht — so nahe das
läge — in Verbindung gebracht werden mit der Frage, ob nicht das un¬
bändige Freiheitsgefühl oder besser die gänzliche Entwöhnung von jedem
energischen Zwang, den uns Aldrich in seiner Skizze „ein junger Raufbold"
so köstlich personifizirt, schuld daran ist an diesem und den meisten anderen
Gebrechen, welche die Union heute zur Schau trägt. Die Verfolgung dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/103>, abgerufen am 27.07.2024.