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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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löschten Gestndels der Welt wahrer Seelenadel zu finden sei und die Erin¬
nerungen an die gesittete Welt, an Erziehung, Religion und Gewissen, an
die tausendjährige Entwickelung des menschlichen Geschlechtes auch das ver¬
lorenste Geschöpf dieser Wildniß in stillen Stunden überwältigt, und der
Dichter so uns die feste Hoffnung begründet, daß keineswegs alle Brücken ab¬
gebrochen sind zwischen der Kulturwelt der Union und diesen gesetzlosen
Distrikten: so zeigt uns Aldrich andrerseits, daß unablässig der meisterlose
kulturlose Sinn der Abenteurer der Goldsteppen in die befriedeten Kreise der
Kultur verheerend einbricht, innerhalb deren man sich so groß, so sicher, so
unangreifbar und vollkommen fühlte. -Mit einem Worte: Bret Harte stellt
dar die unauslöschlichen Spuren der Kultur und Sitte in der Wildniß, im
kulturfernen Menschen, Aldrich die unausrottbaren Rückfälle und Heimsuchungen,
welche die staatliche Gemeinschaft mit fast kulturlosen Territorien den gesitteten
Städten und Staaten der Union bringt. So spielt, wie schon oben erwähnt,
in der Hauptnovelle des vorliegenden Bandes, "Prudence Palfrey", ein Hoch'
stapler von eminenter Begabung, welcher dem Helden des Stückes den sauren
Ertrag gemeinsamer jahrelangen Mühen in den Minen gestohlen hat, die
erste und schwierigste Rolle der Novelle, unter der Maske eines Geistlichen
der Ziegelkirche in Rivermouth. Selbstverständlich hat er sich seine Predigten
in derselben freien Weise angeeignet, wie die achtzig- oder hunderttausend
Dollars seiner früheren Minencollegen. Mit welcher Feinheit und mit wel¬
chem Humor diese Figur gezeichnet ist, soll unten dargestellt werden. Die
Art der Arbeitstheilung zwischen Bret Harte und Aldrich entspricht vollkommen
ihren Naturen. Der Nachweis edelster Menschlichkeit in den denkbar rohesten
und gesetzlosesten Verhältnissen entspricht mehr einer ernsten poetischen Richtung!
die Schilderung der Conflicte, welche ein in die Kulturwelt verschlagener
Abenteurer erzeugt, paßt mehr für den rein humoristischen Dichter.

Das ist ein Theil der Probleme, welche die Gegenwart der Union
ihren Schriftstellern stellt. Das für uns wohlwollende Beurtheiler nord¬
amerikanischer Verhältnisse beklemmendste Problem der Gegenwart aber: wie
die Korruption in der öffentlichen Verwaltung der Centralregierung, der
einzelnen Staaten und jedes größeren Gemeinwesens wirkt, welche Hoff¬
nungen und welche Mittel für ihre Beseitigung vorhanden sind, beschäftigt
keinen der beiden Schriftsteller. Sie mochten mit Recht erkennen, daß die
wichtigste Zukunftsfrage der Union nur in ernsten politischen Berathungen
und Thaten, nicht im Roman und in der Novelle ausgetragen werden
könne. ---

Dagegen hat Aldrich zwei der wichtigsten Ereignisse der Vergangen¬
heit und Entwickelung seines Landes zum Gegenstand der Erzählungen in
diesem Bande gemacht: die Einführung von Eisenbahnen und Telegraphen,


löschten Gestndels der Welt wahrer Seelenadel zu finden sei und die Erin¬
nerungen an die gesittete Welt, an Erziehung, Religion und Gewissen, an
die tausendjährige Entwickelung des menschlichen Geschlechtes auch das ver¬
lorenste Geschöpf dieser Wildniß in stillen Stunden überwältigt, und der
Dichter so uns die feste Hoffnung begründet, daß keineswegs alle Brücken ab¬
gebrochen sind zwischen der Kulturwelt der Union und diesen gesetzlosen
Distrikten: so zeigt uns Aldrich andrerseits, daß unablässig der meisterlose
kulturlose Sinn der Abenteurer der Goldsteppen in die befriedeten Kreise der
Kultur verheerend einbricht, innerhalb deren man sich so groß, so sicher, so
unangreifbar und vollkommen fühlte. -Mit einem Worte: Bret Harte stellt
dar die unauslöschlichen Spuren der Kultur und Sitte in der Wildniß, im
kulturfernen Menschen, Aldrich die unausrottbaren Rückfälle und Heimsuchungen,
welche die staatliche Gemeinschaft mit fast kulturlosen Territorien den gesitteten
Städten und Staaten der Union bringt. So spielt, wie schon oben erwähnt,
in der Hauptnovelle des vorliegenden Bandes, „Prudence Palfrey", ein Hoch'
stapler von eminenter Begabung, welcher dem Helden des Stückes den sauren
Ertrag gemeinsamer jahrelangen Mühen in den Minen gestohlen hat, die
erste und schwierigste Rolle der Novelle, unter der Maske eines Geistlichen
der Ziegelkirche in Rivermouth. Selbstverständlich hat er sich seine Predigten
in derselben freien Weise angeeignet, wie die achtzig- oder hunderttausend
Dollars seiner früheren Minencollegen. Mit welcher Feinheit und mit wel¬
chem Humor diese Figur gezeichnet ist, soll unten dargestellt werden. Die
Art der Arbeitstheilung zwischen Bret Harte und Aldrich entspricht vollkommen
ihren Naturen. Der Nachweis edelster Menschlichkeit in den denkbar rohesten
und gesetzlosesten Verhältnissen entspricht mehr einer ernsten poetischen Richtung!
die Schilderung der Conflicte, welche ein in die Kulturwelt verschlagener
Abenteurer erzeugt, paßt mehr für den rein humoristischen Dichter.

Das ist ein Theil der Probleme, welche die Gegenwart der Union
ihren Schriftstellern stellt. Das für uns wohlwollende Beurtheiler nord¬
amerikanischer Verhältnisse beklemmendste Problem der Gegenwart aber: wie
die Korruption in der öffentlichen Verwaltung der Centralregierung, der
einzelnen Staaten und jedes größeren Gemeinwesens wirkt, welche Hoff¬
nungen und welche Mittel für ihre Beseitigung vorhanden sind, beschäftigt
keinen der beiden Schriftsteller. Sie mochten mit Recht erkennen, daß die
wichtigste Zukunftsfrage der Union nur in ernsten politischen Berathungen
und Thaten, nicht im Roman und in der Novelle ausgetragen werden
könne. —-

Dagegen hat Aldrich zwei der wichtigsten Ereignisse der Vergangen¬
heit und Entwickelung seines Landes zum Gegenstand der Erzählungen in
diesem Bande gemacht: die Einführung von Eisenbahnen und Telegraphen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/102>, abgerufen am 27.07.2024.