Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Thätigkeit aber rütteln sich fortwährend durcheinander. Aus dein überfeiner¬
ten Luxus der Großstadt strebt der verarmte Sohn eines reichen Hauses hinaus
in die Wildniß, um sein Glück in den Minen zu suchen. Von der äußersten
Peripherie des Landes strömen die Glücklichen nach den großen Centren, um
das Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doch behäbig zu leben. Inmitten
der größten Städte ist die Rechtssicherheit und Rechtspflege etwas primitiv,
der Gemeinsinn und das öffentliche Gewissen der Vervollkommnung fähig.
Draußen aber an der Süd- und Westgrenze oder in der Wildniß ist von alledem
gar nichts zu spüren. Das beste Mittel gegen Frevelthaten aller Art ist
dort immer noch, daß wohlmeinende Verschwörer die Habeas-Corpus-Acte
stillschweigend suspendiren und notorische Missethäter an den nächsten Ahorn
knüpfen, um deren Gundrechte an diesem Zustande der Suspension Theil nehmen
zu lassen.

Bret Harte schildert uns nun mit Vorliebe das Leben der Minen-Wild-
niß. der südwestlichen Peripherie; Aldrich dasjenige des Kulturbodens der
Vereinigten Staaten; indessen nicht am liebsten das Leben der großen Centren,
sondern kleiner Städte der Ostküste. Bret Harte würde vermuthlich erst dann
zu der vollen Einsicht der dunkeln Seiten seiner Helden -- auch der bestbe¬
leumundeten unter ihnen -- gelangen, wenn die Gründlichkeit einer deutschen
Untersuchungsbehörde sich damit beschäftigte, das bedenkliche Vorleben und
die zweifelhafte Gegenwart derselben actenmäßig im Personalbogen festzu¬
stellen. Er findet den höchsten poetischen Reiz darin, zu zeigen, wie die¬
selben Tugenden, die der moderne Kulturmensch für sich in Anspruch nimmt,
dieselben Leidenschaften und Zweifel, die diesen erfüllen und peinigen, auch da
draußen in der gesetzlosen, fast kulturlosen Atmosphäre der Wildniß bei einem
zusammengewürfelten Haufen meisterloser Menschen zu Tage treten, und die¬
selben Conflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen schildert
uns das verhältnißmäßig geordnete Leben alter gesetzter und wohlerzogener
Städte "Neuenglands", in denen das Puritanerthum der Roundheads noch
deutlich wirkt -- also auch directe Erinnerungen an die vor zweihundert Jah-
n'n eingewanderten Vorfahren sich erhalten haben -- Städte, welche bewohnt
sind von einer für Amerika denkbar conservativsten und stabilsten, durch und
durch "utochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgespräch dient,
wenn ein Kind der Gemeinde hinauszieht, um sein Glück in den Minen zu
suchen. Und dennoch müßten diese Städte nicht Theile der amerikanischen
Union sein, wenn das wilde Leben, welches da draußen in den Goldwüsten
brandet, nicht seine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen sollte
"r das reine glatte Wasser der kleinen Hafenstadt, hinüber über die Dämme
der Ordnung der civilisirten Theile der Union. Während also Bret Harte
mit Vorliebe sich die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie auch inmitten des werth-


Grenzboten IV. 1874.

Thätigkeit aber rütteln sich fortwährend durcheinander. Aus dein überfeiner¬
ten Luxus der Großstadt strebt der verarmte Sohn eines reichen Hauses hinaus
in die Wildniß, um sein Glück in den Minen zu suchen. Von der äußersten
Peripherie des Landes strömen die Glücklichen nach den großen Centren, um
das Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doch behäbig zu leben. Inmitten
der größten Städte ist die Rechtssicherheit und Rechtspflege etwas primitiv,
der Gemeinsinn und das öffentliche Gewissen der Vervollkommnung fähig.
Draußen aber an der Süd- und Westgrenze oder in der Wildniß ist von alledem
gar nichts zu spüren. Das beste Mittel gegen Frevelthaten aller Art ist
dort immer noch, daß wohlmeinende Verschwörer die Habeas-Corpus-Acte
stillschweigend suspendiren und notorische Missethäter an den nächsten Ahorn
knüpfen, um deren Gundrechte an diesem Zustande der Suspension Theil nehmen
zu lassen.

Bret Harte schildert uns nun mit Vorliebe das Leben der Minen-Wild-
niß. der südwestlichen Peripherie; Aldrich dasjenige des Kulturbodens der
Vereinigten Staaten; indessen nicht am liebsten das Leben der großen Centren,
sondern kleiner Städte der Ostküste. Bret Harte würde vermuthlich erst dann
zu der vollen Einsicht der dunkeln Seiten seiner Helden — auch der bestbe¬
leumundeten unter ihnen — gelangen, wenn die Gründlichkeit einer deutschen
Untersuchungsbehörde sich damit beschäftigte, das bedenkliche Vorleben und
die zweifelhafte Gegenwart derselben actenmäßig im Personalbogen festzu¬
stellen. Er findet den höchsten poetischen Reiz darin, zu zeigen, wie die¬
selben Tugenden, die der moderne Kulturmensch für sich in Anspruch nimmt,
dieselben Leidenschaften und Zweifel, die diesen erfüllen und peinigen, auch da
draußen in der gesetzlosen, fast kulturlosen Atmosphäre der Wildniß bei einem
zusammengewürfelten Haufen meisterloser Menschen zu Tage treten, und die¬
selben Conflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen schildert
uns das verhältnißmäßig geordnete Leben alter gesetzter und wohlerzogener
Städte „Neuenglands", in denen das Puritanerthum der Roundheads noch
deutlich wirkt — also auch directe Erinnerungen an die vor zweihundert Jah-
n'n eingewanderten Vorfahren sich erhalten haben — Städte, welche bewohnt
sind von einer für Amerika denkbar conservativsten und stabilsten, durch und
durch «utochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgespräch dient,
wenn ein Kind der Gemeinde hinauszieht, um sein Glück in den Minen zu
suchen. Und dennoch müßten diese Städte nicht Theile der amerikanischen
Union sein, wenn das wilde Leben, welches da draußen in den Goldwüsten
brandet, nicht seine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen sollte
"r das reine glatte Wasser der kleinen Hafenstadt, hinüber über die Dämme
der Ordnung der civilisirten Theile der Union. Während also Bret Harte
mit Vorliebe sich die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie auch inmitten des werth-


Grenzboten IV. 1874.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132323"/>
          <p xml:id="ID_304" prev="#ID_303"> Thätigkeit aber rütteln sich fortwährend durcheinander. Aus dein überfeiner¬<lb/>
ten Luxus der Großstadt strebt der verarmte Sohn eines reichen Hauses hinaus<lb/>
in die Wildniß, um sein Glück in den Minen zu suchen. Von der äußersten<lb/>
Peripherie des Landes strömen die Glücklichen nach den großen Centren, um<lb/>
das Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doch behäbig zu leben. Inmitten<lb/>
der größten Städte ist die Rechtssicherheit und Rechtspflege etwas primitiv,<lb/>
der Gemeinsinn und das öffentliche Gewissen der Vervollkommnung fähig.<lb/>
Draußen aber an der Süd- und Westgrenze oder in der Wildniß ist von alledem<lb/>
gar nichts zu spüren. Das beste Mittel gegen Frevelthaten aller Art ist<lb/>
dort immer noch, daß wohlmeinende Verschwörer die Habeas-Corpus-Acte<lb/>
stillschweigend suspendiren und notorische Missethäter an den nächsten Ahorn<lb/>
knüpfen, um deren Gundrechte an diesem Zustande der Suspension Theil nehmen<lb/>
zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Bret Harte schildert uns nun mit Vorliebe das Leben der Minen-Wild-<lb/>
niß. der südwestlichen Peripherie; Aldrich dasjenige des Kulturbodens der<lb/>
Vereinigten Staaten; indessen nicht am liebsten das Leben der großen Centren,<lb/>
sondern kleiner Städte der Ostküste. Bret Harte würde vermuthlich erst dann<lb/>
zu der vollen Einsicht der dunkeln Seiten seiner Helden &#x2014; auch der bestbe¬<lb/>
leumundeten unter ihnen &#x2014; gelangen, wenn die Gründlichkeit einer deutschen<lb/>
Untersuchungsbehörde sich damit beschäftigte, das bedenkliche Vorleben und<lb/>
die zweifelhafte Gegenwart derselben actenmäßig im Personalbogen festzu¬<lb/>
stellen. Er findet den höchsten poetischen Reiz darin, zu zeigen, wie die¬<lb/>
selben Tugenden, die der moderne Kulturmensch für sich in Anspruch nimmt,<lb/>
dieselben Leidenschaften und Zweifel, die diesen erfüllen und peinigen, auch da<lb/>
draußen in der gesetzlosen, fast kulturlosen Atmosphäre der Wildniß bei einem<lb/>
zusammengewürfelten Haufen meisterloser Menschen zu Tage treten, und die¬<lb/>
selben Conflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen schildert<lb/>
uns das verhältnißmäßig geordnete Leben alter gesetzter und wohlerzogener<lb/>
Städte &#x201E;Neuenglands", in denen das Puritanerthum der Roundheads noch<lb/>
deutlich wirkt &#x2014; also auch directe Erinnerungen an die vor zweihundert Jah-<lb/>
n'n eingewanderten Vorfahren sich erhalten haben &#x2014; Städte, welche bewohnt<lb/>
sind von einer für Amerika denkbar conservativsten und stabilsten, durch und<lb/>
durch «utochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgespräch dient,<lb/>
wenn ein Kind der Gemeinde hinauszieht, um sein Glück in den Minen zu<lb/>
suchen. Und dennoch müßten diese Städte nicht Theile der amerikanischen<lb/>
Union sein, wenn das wilde Leben, welches da draußen in den Goldwüsten<lb/>
brandet, nicht seine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen sollte<lb/>
"r das reine glatte Wasser der kleinen Hafenstadt, hinüber über die Dämme<lb/>
der Ordnung der civilisirten Theile der Union. Während also Bret Harte<lb/>
mit Vorliebe sich die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie auch inmitten des werth-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1874.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] Thätigkeit aber rütteln sich fortwährend durcheinander. Aus dein überfeiner¬ ten Luxus der Großstadt strebt der verarmte Sohn eines reichen Hauses hinaus in die Wildniß, um sein Glück in den Minen zu suchen. Von der äußersten Peripherie des Landes strömen die Glücklichen nach den großen Centren, um das Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doch behäbig zu leben. Inmitten der größten Städte ist die Rechtssicherheit und Rechtspflege etwas primitiv, der Gemeinsinn und das öffentliche Gewissen der Vervollkommnung fähig. Draußen aber an der Süd- und Westgrenze oder in der Wildniß ist von alledem gar nichts zu spüren. Das beste Mittel gegen Frevelthaten aller Art ist dort immer noch, daß wohlmeinende Verschwörer die Habeas-Corpus-Acte stillschweigend suspendiren und notorische Missethäter an den nächsten Ahorn knüpfen, um deren Gundrechte an diesem Zustande der Suspension Theil nehmen zu lassen. Bret Harte schildert uns nun mit Vorliebe das Leben der Minen-Wild- niß. der südwestlichen Peripherie; Aldrich dasjenige des Kulturbodens der Vereinigten Staaten; indessen nicht am liebsten das Leben der großen Centren, sondern kleiner Städte der Ostküste. Bret Harte würde vermuthlich erst dann zu der vollen Einsicht der dunkeln Seiten seiner Helden — auch der bestbe¬ leumundeten unter ihnen — gelangen, wenn die Gründlichkeit einer deutschen Untersuchungsbehörde sich damit beschäftigte, das bedenkliche Vorleben und die zweifelhafte Gegenwart derselben actenmäßig im Personalbogen festzu¬ stellen. Er findet den höchsten poetischen Reiz darin, zu zeigen, wie die¬ selben Tugenden, die der moderne Kulturmensch für sich in Anspruch nimmt, dieselben Leidenschaften und Zweifel, die diesen erfüllen und peinigen, auch da draußen in der gesetzlosen, fast kulturlosen Atmosphäre der Wildniß bei einem zusammengewürfelten Haufen meisterloser Menschen zu Tage treten, und die¬ selben Conflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen schildert uns das verhältnißmäßig geordnete Leben alter gesetzter und wohlerzogener Städte „Neuenglands", in denen das Puritanerthum der Roundheads noch deutlich wirkt — also auch directe Erinnerungen an die vor zweihundert Jah- n'n eingewanderten Vorfahren sich erhalten haben — Städte, welche bewohnt sind von einer für Amerika denkbar conservativsten und stabilsten, durch und durch «utochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgespräch dient, wenn ein Kind der Gemeinde hinauszieht, um sein Glück in den Minen zu suchen. Und dennoch müßten diese Städte nicht Theile der amerikanischen Union sein, wenn das wilde Leben, welches da draußen in den Goldwüsten brandet, nicht seine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen sollte "r das reine glatte Wasser der kleinen Hafenstadt, hinüber über die Dämme der Ordnung der civilisirten Theile der Union. Während also Bret Harte mit Vorliebe sich die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie auch inmitten des werth- Grenzboten IV. 1874.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/101>, abgerufen am 29.12.2024.