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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Concurrenz und dem unbändigen Erwerbstrieb allein, mehr noch an den
Gewohnheiten des Publikums würde er unfehlbar scheitern müssen. Wohl
wäre es eine schöne Aufgabe für die politische Presse, in der "stillen Jahres¬
zeit" ihren Raumüberfluß zu einer allseitigeren und gründlicheren Beleuchtung
der vorhandenen Resultate und der zukünftigen Aufgaben der Gesetzgebung
auszunutzen, als dieselbe im Drange der eigentlichen Saison möglich ist.
Aber wieviel Zeitungsleser sind vorhanden, die in den Hundstagen Lust
haben, sich über staatsrechtliche und volkswirthschaftliche Probleme den Kopf
zu zerbrechen? Und, was das Schlimmere ist, wieviel Publicisten giebt es.
die bei 28 -- 30 Grad Re'aumur im Schatten den Heroismus besäßen, sich
der nichts weniger als leichten Aufgabe zu unterziehen? Ist doch ein Zei¬
tungsschreiber so zu sagen auch ein Mensch! Und so mag denn getrost für die
Saison mores die Regel bleiben, daß die Journalisten heute widerrufen, was
sie gestern erfunden, und übermorgen sich darüber lustig machen, daß die Er¬
findung nur irgendwo ernst genommen werden konnte. Der biedere Staats¬
bürger ist ja ohnehin gewohnt, die Zeitungen in diesen heißen Monaten mehr
als je ausschließlich zu seiner Unterhaltung, und nicht zu seiner Belehrung
zu lesen.

Möge indeß der Leser gestatten, daß ich für diese etwas schwermüthige
Betrachtung demüthigst um Verzeihung bitte. Um so mehr als auf denjenigen
Gebieten, welche die Briefe gewöhnlich berührt haben, über trostlose Einöde
bisher keineswegs zu klagen ist. Nehmen wir zum Exempel das Reich der
dramatischen Muse. Die königlichen Theater freilich sind längst geschlossen;
aber weder auf das höhere Drama, noch selbst auf die große Oper haben wir
deshalb verzichten müssen. Seit dem 1. Juni ist die Posse bei Kroll durch die
ernste Musik, bei Wallner durch den Kothurn verdrängt. Ein wenig seltsam
allerdings muthet es uns immer an, wenn wir uns in dem weltbekannten
"Etablissement" am Königsplatz aus den duftigen Laubengängen mit den
Plätschernden Springbrunnen und den rauschenden Roben schmachtender
Schönen plötzlich in das ernste Haus der unglücklichen Jüdin und ihres glau¬
bensstarren Vaters Eleazar oder in Florestan's schaurige Kerkergruft versetzt
sehen. Aber wenn die Hauptrollen von einer wirklich genialen Künstlerin
wiedergegeben werden, dann vergißt man leicht Zeit und Ort und selbst die
vielfältigen Mängel, die sich bei der Aufführung größerer Opern aus der
Beschränktheit der Räume und der für die Gesammtwirkung zu Gebote
stehenden Kräfte von selbst ergeben. Eine solche Künstlerin ist Fräulein
Pappenheim. In ihr ist musikalische Tüchtigkeit mit einem seltenen drama¬
tischen Talent verbunden; ihre glänzende Bühnenerscheinung und die edle
Plastik ihrer Bewegungen erhöht noch die Wirkung ihres Spiels. Vor Allem
ist ihr Fidelio eine Gestalt voll tiefer Empfindung und dramatischer Leben-


Grenzboten III. 1S74. 10

Concurrenz und dem unbändigen Erwerbstrieb allein, mehr noch an den
Gewohnheiten des Publikums würde er unfehlbar scheitern müssen. Wohl
wäre es eine schöne Aufgabe für die politische Presse, in der „stillen Jahres¬
zeit" ihren Raumüberfluß zu einer allseitigeren und gründlicheren Beleuchtung
der vorhandenen Resultate und der zukünftigen Aufgaben der Gesetzgebung
auszunutzen, als dieselbe im Drange der eigentlichen Saison möglich ist.
Aber wieviel Zeitungsleser sind vorhanden, die in den Hundstagen Lust
haben, sich über staatsrechtliche und volkswirthschaftliche Probleme den Kopf
zu zerbrechen? Und, was das Schlimmere ist, wieviel Publicisten giebt es.
die bei 28 — 30 Grad Re'aumur im Schatten den Heroismus besäßen, sich
der nichts weniger als leichten Aufgabe zu unterziehen? Ist doch ein Zei¬
tungsschreiber so zu sagen auch ein Mensch! Und so mag denn getrost für die
Saison mores die Regel bleiben, daß die Journalisten heute widerrufen, was
sie gestern erfunden, und übermorgen sich darüber lustig machen, daß die Er¬
findung nur irgendwo ernst genommen werden konnte. Der biedere Staats¬
bürger ist ja ohnehin gewohnt, die Zeitungen in diesen heißen Monaten mehr
als je ausschließlich zu seiner Unterhaltung, und nicht zu seiner Belehrung
zu lesen.

Möge indeß der Leser gestatten, daß ich für diese etwas schwermüthige
Betrachtung demüthigst um Verzeihung bitte. Um so mehr als auf denjenigen
Gebieten, welche die Briefe gewöhnlich berührt haben, über trostlose Einöde
bisher keineswegs zu klagen ist. Nehmen wir zum Exempel das Reich der
dramatischen Muse. Die königlichen Theater freilich sind längst geschlossen;
aber weder auf das höhere Drama, noch selbst auf die große Oper haben wir
deshalb verzichten müssen. Seit dem 1. Juni ist die Posse bei Kroll durch die
ernste Musik, bei Wallner durch den Kothurn verdrängt. Ein wenig seltsam
allerdings muthet es uns immer an, wenn wir uns in dem weltbekannten
„Etablissement" am Königsplatz aus den duftigen Laubengängen mit den
Plätschernden Springbrunnen und den rauschenden Roben schmachtender
Schönen plötzlich in das ernste Haus der unglücklichen Jüdin und ihres glau¬
bensstarren Vaters Eleazar oder in Florestan's schaurige Kerkergruft versetzt
sehen. Aber wenn die Hauptrollen von einer wirklich genialen Künstlerin
wiedergegeben werden, dann vergißt man leicht Zeit und Ort und selbst die
vielfältigen Mängel, die sich bei der Aufführung größerer Opern aus der
Beschränktheit der Räume und der für die Gesammtwirkung zu Gebote
stehenden Kräfte von selbst ergeben. Eine solche Künstlerin ist Fräulein
Pappenheim. In ihr ist musikalische Tüchtigkeit mit einem seltenen drama¬
tischen Talent verbunden; ihre glänzende Bühnenerscheinung und die edle
Plastik ihrer Bewegungen erhöht noch die Wirkung ihres Spiels. Vor Allem
ist ihr Fidelio eine Gestalt voll tiefer Empfindung und dramatischer Leben-


Grenzboten III. 1S74. 10
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[0081] Concurrenz und dem unbändigen Erwerbstrieb allein, mehr noch an den Gewohnheiten des Publikums würde er unfehlbar scheitern müssen. Wohl wäre es eine schöne Aufgabe für die politische Presse, in der „stillen Jahres¬ zeit" ihren Raumüberfluß zu einer allseitigeren und gründlicheren Beleuchtung der vorhandenen Resultate und der zukünftigen Aufgaben der Gesetzgebung auszunutzen, als dieselbe im Drange der eigentlichen Saison möglich ist. Aber wieviel Zeitungsleser sind vorhanden, die in den Hundstagen Lust haben, sich über staatsrechtliche und volkswirthschaftliche Probleme den Kopf zu zerbrechen? Und, was das Schlimmere ist, wieviel Publicisten giebt es. die bei 28 — 30 Grad Re'aumur im Schatten den Heroismus besäßen, sich der nichts weniger als leichten Aufgabe zu unterziehen? Ist doch ein Zei¬ tungsschreiber so zu sagen auch ein Mensch! Und so mag denn getrost für die Saison mores die Regel bleiben, daß die Journalisten heute widerrufen, was sie gestern erfunden, und übermorgen sich darüber lustig machen, daß die Er¬ findung nur irgendwo ernst genommen werden konnte. Der biedere Staats¬ bürger ist ja ohnehin gewohnt, die Zeitungen in diesen heißen Monaten mehr als je ausschließlich zu seiner Unterhaltung, und nicht zu seiner Belehrung zu lesen. Möge indeß der Leser gestatten, daß ich für diese etwas schwermüthige Betrachtung demüthigst um Verzeihung bitte. Um so mehr als auf denjenigen Gebieten, welche die Briefe gewöhnlich berührt haben, über trostlose Einöde bisher keineswegs zu klagen ist. Nehmen wir zum Exempel das Reich der dramatischen Muse. Die königlichen Theater freilich sind längst geschlossen; aber weder auf das höhere Drama, noch selbst auf die große Oper haben wir deshalb verzichten müssen. Seit dem 1. Juni ist die Posse bei Kroll durch die ernste Musik, bei Wallner durch den Kothurn verdrängt. Ein wenig seltsam allerdings muthet es uns immer an, wenn wir uns in dem weltbekannten „Etablissement" am Königsplatz aus den duftigen Laubengängen mit den Plätschernden Springbrunnen und den rauschenden Roben schmachtender Schönen plötzlich in das ernste Haus der unglücklichen Jüdin und ihres glau¬ bensstarren Vaters Eleazar oder in Florestan's schaurige Kerkergruft versetzt sehen. Aber wenn die Hauptrollen von einer wirklich genialen Künstlerin wiedergegeben werden, dann vergißt man leicht Zeit und Ort und selbst die vielfältigen Mängel, die sich bei der Aufführung größerer Opern aus der Beschränktheit der Räume und der für die Gesammtwirkung zu Gebote stehenden Kräfte von selbst ergeben. Eine solche Künstlerin ist Fräulein Pappenheim. In ihr ist musikalische Tüchtigkeit mit einem seltenen drama¬ tischen Talent verbunden; ihre glänzende Bühnenerscheinung und die edle Plastik ihrer Bewegungen erhöht noch die Wirkung ihres Spiels. Vor Allem ist ihr Fidelio eine Gestalt voll tiefer Empfindung und dramatischer Leben- Grenzboten III. 1S74. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/81>, abgerufen am 22.07.2024.