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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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deren Pesthauch (sie!) sich von Berlin aus über alle Länder verbreitet, ganz
Europa erfüllt und Alles, was noch gesund ist, paralysirt. Die Wissenschaft
ist auf Abwege gerathen und hat die Bahnen des Materialismus beschulten;
die gesellschaftlichen Zustände sind so weit gelockert, daß alle Bande auf¬
gelöst sind. Das Mißtrauen zwischen den einzelnen Ländern hat die Budgets
mit ungeheuren Summen belastet, welche die jetzigen, bisher nicht dagewesenen
Rüstungen erfordern. In finanziellen Kreisen ist das Mißtrauen eben so
groß, wie zwischen den Staaten. Diebstähle und Betrügereien sind an der
Tagesordnung. Die Habgier ist abscheulicher als jemals, die Ausschweifung
größer als zu den Zeiten der Römer, und nachdem Alles, was dem Gefühl
entspringt, wie Glaube, Liebe, Aufopferung, Poesie verhöhnt worden, werden
aus allen Städten Europas Nachrichten von beständigen Selbstmorden ge¬
meldet. In unserm Lemberg sind im Verlauf einer Woche sieben Selbstmorde
vorgekommen, -- in andern Städten ereignen sich so viele alle Tage. --

Es sind dies Anzeichen der Erniedrigung und des Verfalls, welchen die
Geschichte als Folge der Siege Deutschlands, die es zur ersten militärischen
und politischen Macht erhoben haben, verzeichnen wird.

Als Frankreich gesiegt hatte und sein Volk in Europa den Ton angab,
durchwehte ein gesunder Hauch alle Verhältnisse. Die Menschheit hob sich
moralisch, wissenschaftlich, social -- und die Geschichte verzeichnete einen all¬
gemeinen Fortschritt.

Dieser Unterschied der Einflüsse der Siege zweier Nationen ist ein Faktum,
welches über den Werth der Franzosen und der Deutschen entscheiden wird.

Dieser Werth tritt noch greller in Hinsicht der politischen Verhältnisse
hervor. Die Franzosen, obschon sie nichts Erfolgreiches für Polen gethan
haben, streckten ihm gleichwohl die hülfreiche Hand entgegen, -- zeigten für
die Opfer dieser wichtigsten und heiligsten Sache in Europa Mitgefühl und
Anerkennung. Die siegreichen Deutschen haben diese Sache in nichtswürdiger
Weise verhöhnt, ihre Regierung dagegen hat den Glauben, die Sprache und
die Interessen Polens grausam verfolgt.

Die Gesetze, womit man die Kirche in Fesseln geschmiedet und durch
welche man die Katholiken zersprengt, -- diese rücksichtslosen, der Toleranz
widerstrebenden Gesetze werden unerbittlich in den von Polen abgerissenen
Landestheilen zur Ausführung gebracht: am Rhein und in andern von
Katholiken bewohnten deutschen Gegenden wendet man sie bei Weitem
gelinder an. Der Erzbischof von Posen und Gnesen ist in Haft und in
rechtswidriger Weise (sie!) seines erzbischöflichen Amtes entsetzt; das Kirchen¬
vermögen wird sequestrirt, das Capitel ist auseinander getrieben, die Ver¬
waltung der Diöcese ist einem protestantischen Civil-Beamten übertragen, die
Seminarien sind geschlossen, eine Menge Geistlicher eingekerkert - und die


deren Pesthauch (sie!) sich von Berlin aus über alle Länder verbreitet, ganz
Europa erfüllt und Alles, was noch gesund ist, paralysirt. Die Wissenschaft
ist auf Abwege gerathen und hat die Bahnen des Materialismus beschulten;
die gesellschaftlichen Zustände sind so weit gelockert, daß alle Bande auf¬
gelöst sind. Das Mißtrauen zwischen den einzelnen Ländern hat die Budgets
mit ungeheuren Summen belastet, welche die jetzigen, bisher nicht dagewesenen
Rüstungen erfordern. In finanziellen Kreisen ist das Mißtrauen eben so
groß, wie zwischen den Staaten. Diebstähle und Betrügereien sind an der
Tagesordnung. Die Habgier ist abscheulicher als jemals, die Ausschweifung
größer als zu den Zeiten der Römer, und nachdem Alles, was dem Gefühl
entspringt, wie Glaube, Liebe, Aufopferung, Poesie verhöhnt worden, werden
aus allen Städten Europas Nachrichten von beständigen Selbstmorden ge¬
meldet. In unserm Lemberg sind im Verlauf einer Woche sieben Selbstmorde
vorgekommen, — in andern Städten ereignen sich so viele alle Tage. —

Es sind dies Anzeichen der Erniedrigung und des Verfalls, welchen die
Geschichte als Folge der Siege Deutschlands, die es zur ersten militärischen
und politischen Macht erhoben haben, verzeichnen wird.

Als Frankreich gesiegt hatte und sein Volk in Europa den Ton angab,
durchwehte ein gesunder Hauch alle Verhältnisse. Die Menschheit hob sich
moralisch, wissenschaftlich, social — und die Geschichte verzeichnete einen all¬
gemeinen Fortschritt.

Dieser Unterschied der Einflüsse der Siege zweier Nationen ist ein Faktum,
welches über den Werth der Franzosen und der Deutschen entscheiden wird.

Dieser Werth tritt noch greller in Hinsicht der politischen Verhältnisse
hervor. Die Franzosen, obschon sie nichts Erfolgreiches für Polen gethan
haben, streckten ihm gleichwohl die hülfreiche Hand entgegen, — zeigten für
die Opfer dieser wichtigsten und heiligsten Sache in Europa Mitgefühl und
Anerkennung. Die siegreichen Deutschen haben diese Sache in nichtswürdiger
Weise verhöhnt, ihre Regierung dagegen hat den Glauben, die Sprache und
die Interessen Polens grausam verfolgt.

Die Gesetze, womit man die Kirche in Fesseln geschmiedet und durch
welche man die Katholiken zersprengt, — diese rücksichtslosen, der Toleranz
widerstrebenden Gesetze werden unerbittlich in den von Polen abgerissenen
Landestheilen zur Ausführung gebracht: am Rhein und in andern von
Katholiken bewohnten deutschen Gegenden wendet man sie bei Weitem
gelinder an. Der Erzbischof von Posen und Gnesen ist in Haft und in
rechtswidriger Weise (sie!) seines erzbischöflichen Amtes entsetzt; das Kirchen¬
vermögen wird sequestrirt, das Capitel ist auseinander getrieben, die Ver¬
waltung der Diöcese ist einem protestantischen Civil-Beamten übertragen, die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/78>, abgerufen am 22.07.2024.