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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Die Hazeta Karodowa und der "Werfall der "Menschheit".

Die "Gazeta Narodowa" vom 16. Juni d. I. enthält eine Betrachtung
unter der Ueberschrift "der Verfall der Menschheit und unsere von Preußen
annectirten Landestheile". Der Artikel ist ein echt polnisches Machwerk. Er
bezeichnet die eigentliche Herzensmeinung heißblütiger polnischer Patrioten,
die da, wo Rücksichten des Interesses oder der Furcht zum Schweigen gebracht
sind, ihrem Gefühl über die Illusionen, diesem National-Eigenthum der Polen,
sich zügellos überlassen. Der Artikel ist so charakteristisch für den Unverstand
und die Leidenschaft des unglücklichen Volkes, daß eine weitere Verbreitung
desselben sich wohl verlohnt. Die politische Stellung unseres Blattes sollte
jeden Verdacht, als könnten wir durch die Veröffentlichung der Uebersetzung
den darin geäußerten Ansichten Gunst erweisen wollen, von vornherein zurück¬
weisen; gleichwohl sind einzelne Stellen von der Art, daß wir Anstand nehmen,
sie wiederzugeben, obwohl eine Weglassung oder eine Milderung im Ausdruck
nicht dazu beitragen kann, in unsern Lesern eine ganz treue Vorstellung von
den Gedanken und Tendenzen des polnischen Elaborats zu erwecken; darum
deuten wir die Lücken an, die wir lassen müssen, um nicht mit unsern Ge¬
setzen in Collision zu gerathen. So lautet denn ixr Artikel des "Narodowa"
folgendermaßen:

"Noch nie ist die Menschheit so tief gefallen als heut.

Am sichtbarsten ist dieser fast allgemeine Verfall an dem verzweiflungs¬
vollen Ringen der Parteien in Frankreich, -- an der Fluth von Schmähungen
in der Journalistik, -- den unaufhörlichen Intriguen der Regierung und dem
Auftreten der Abgeordneten, welche in Stockschlägen, Straßenscandalen und
in der polizeilichen Hülfe überzeugende Beweise und den Triumph für ihre
Sache suchen.

Wenn indeß die französischen Schmutzereien widerwärtig sind und das
Vorgefühl einer neuen Katastrophe in diesem Lande vollständig begründet
erscheint, so kann man Alles, was dort geschieht, gewissermaßen durch den
Eindruck der vor einigen Jahren erlittenen Niederlage erklären, -- einer
Niederlage, die fürchterlich, -- unvorhergesehen war, die die Verhältnisse und
Kräfte Frankreichs vollständig zersetzt hat. Die Politik des Besiegten pflegt
die schlimmste zu sein und. nicht wenige Erfahrungen wird Frankreich noch
durchmachen müssen, bevor sich dort die Leidenschaften beruhigen und die Ver¬
hältnisse sich wieder ihrer friedlichen Entwickelung zuwenden.

Ein schlimmerer Beweis des Verfalls der Menschheit als die Zersetzung
Frankreichs ist das Verfahren der deutschen Regierung und der deutschen
Volksvertretung. Dieses Verfahren liefert den Beweis von einer Fäulniß,


Die Hazeta Karodowa und der „Werfall der "Menschheit".

Die „Gazeta Narodowa" vom 16. Juni d. I. enthält eine Betrachtung
unter der Ueberschrift „der Verfall der Menschheit und unsere von Preußen
annectirten Landestheile". Der Artikel ist ein echt polnisches Machwerk. Er
bezeichnet die eigentliche Herzensmeinung heißblütiger polnischer Patrioten,
die da, wo Rücksichten des Interesses oder der Furcht zum Schweigen gebracht
sind, ihrem Gefühl über die Illusionen, diesem National-Eigenthum der Polen,
sich zügellos überlassen. Der Artikel ist so charakteristisch für den Unverstand
und die Leidenschaft des unglücklichen Volkes, daß eine weitere Verbreitung
desselben sich wohl verlohnt. Die politische Stellung unseres Blattes sollte
jeden Verdacht, als könnten wir durch die Veröffentlichung der Uebersetzung
den darin geäußerten Ansichten Gunst erweisen wollen, von vornherein zurück¬
weisen; gleichwohl sind einzelne Stellen von der Art, daß wir Anstand nehmen,
sie wiederzugeben, obwohl eine Weglassung oder eine Milderung im Ausdruck
nicht dazu beitragen kann, in unsern Lesern eine ganz treue Vorstellung von
den Gedanken und Tendenzen des polnischen Elaborats zu erwecken; darum
deuten wir die Lücken an, die wir lassen müssen, um nicht mit unsern Ge¬
setzen in Collision zu gerathen. So lautet denn ixr Artikel des „Narodowa"
folgendermaßen:

„Noch nie ist die Menschheit so tief gefallen als heut.

Am sichtbarsten ist dieser fast allgemeine Verfall an dem verzweiflungs¬
vollen Ringen der Parteien in Frankreich, — an der Fluth von Schmähungen
in der Journalistik, — den unaufhörlichen Intriguen der Regierung und dem
Auftreten der Abgeordneten, welche in Stockschlägen, Straßenscandalen und
in der polizeilichen Hülfe überzeugende Beweise und den Triumph für ihre
Sache suchen.

Wenn indeß die französischen Schmutzereien widerwärtig sind und das
Vorgefühl einer neuen Katastrophe in diesem Lande vollständig begründet
erscheint, so kann man Alles, was dort geschieht, gewissermaßen durch den
Eindruck der vor einigen Jahren erlittenen Niederlage erklären, — einer
Niederlage, die fürchterlich, — unvorhergesehen war, die die Verhältnisse und
Kräfte Frankreichs vollständig zersetzt hat. Die Politik des Besiegten pflegt
die schlimmste zu sein und. nicht wenige Erfahrungen wird Frankreich noch
durchmachen müssen, bevor sich dort die Leidenschaften beruhigen und die Ver¬
hältnisse sich wieder ihrer friedlichen Entwickelung zuwenden.

Ein schlimmerer Beweis des Verfalls der Menschheit als die Zersetzung
Frankreichs ist das Verfahren der deutschen Regierung und der deutschen
Volksvertretung. Dieses Verfahren liefert den Beweis von einer Fäulniß,


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[0077] Die Hazeta Karodowa und der „Werfall der "Menschheit". Die „Gazeta Narodowa" vom 16. Juni d. I. enthält eine Betrachtung unter der Ueberschrift „der Verfall der Menschheit und unsere von Preußen annectirten Landestheile". Der Artikel ist ein echt polnisches Machwerk. Er bezeichnet die eigentliche Herzensmeinung heißblütiger polnischer Patrioten, die da, wo Rücksichten des Interesses oder der Furcht zum Schweigen gebracht sind, ihrem Gefühl über die Illusionen, diesem National-Eigenthum der Polen, sich zügellos überlassen. Der Artikel ist so charakteristisch für den Unverstand und die Leidenschaft des unglücklichen Volkes, daß eine weitere Verbreitung desselben sich wohl verlohnt. Die politische Stellung unseres Blattes sollte jeden Verdacht, als könnten wir durch die Veröffentlichung der Uebersetzung den darin geäußerten Ansichten Gunst erweisen wollen, von vornherein zurück¬ weisen; gleichwohl sind einzelne Stellen von der Art, daß wir Anstand nehmen, sie wiederzugeben, obwohl eine Weglassung oder eine Milderung im Ausdruck nicht dazu beitragen kann, in unsern Lesern eine ganz treue Vorstellung von den Gedanken und Tendenzen des polnischen Elaborats zu erwecken; darum deuten wir die Lücken an, die wir lassen müssen, um nicht mit unsern Ge¬ setzen in Collision zu gerathen. So lautet denn ixr Artikel des „Narodowa" folgendermaßen: „Noch nie ist die Menschheit so tief gefallen als heut. Am sichtbarsten ist dieser fast allgemeine Verfall an dem verzweiflungs¬ vollen Ringen der Parteien in Frankreich, — an der Fluth von Schmähungen in der Journalistik, — den unaufhörlichen Intriguen der Regierung und dem Auftreten der Abgeordneten, welche in Stockschlägen, Straßenscandalen und in der polizeilichen Hülfe überzeugende Beweise und den Triumph für ihre Sache suchen. Wenn indeß die französischen Schmutzereien widerwärtig sind und das Vorgefühl einer neuen Katastrophe in diesem Lande vollständig begründet erscheint, so kann man Alles, was dort geschieht, gewissermaßen durch den Eindruck der vor einigen Jahren erlittenen Niederlage erklären, — einer Niederlage, die fürchterlich, — unvorhergesehen war, die die Verhältnisse und Kräfte Frankreichs vollständig zersetzt hat. Die Politik des Besiegten pflegt die schlimmste zu sein und. nicht wenige Erfahrungen wird Frankreich noch durchmachen müssen, bevor sich dort die Leidenschaften beruhigen und die Ver¬ hältnisse sich wieder ihrer friedlichen Entwickelung zuwenden. Ein schlimmerer Beweis des Verfalls der Menschheit als die Zersetzung Frankreichs ist das Verfahren der deutschen Regierung und der deutschen Volksvertretung. Dieses Verfahren liefert den Beweis von einer Fäulniß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/77>, abgerufen am 22.07.2024.