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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Michelet nicht eingesteht, naturgemäß zum Cäsarismus zurückführt. "Den
großen Namen des Reichs, diese Idee der Gleichheit unter einem Monarchen,
so entgegengesetzt dem aristokratischen Princip Germaniens, hat Rom in den
Boden Galliens gesenkt. Die barbarischen Könige haben ihren Gewinn
daraus ziehen können. Gepflegt von der Kirche, freudig aufgenommen vom
Volke, wird diese Idee ihren Weg machen durch die Zeiten der Karolinger
und der Capetinger. Sie wird uns Schritt für Schritt zur Vernichtung der
Aristokratie, zur gesellschaftlichen und politischen Gleichheit der neuesten Zeit
führen!" Aber auch zum modernen Kaiserthum: eine Thatsache, die Michelet
freilich als logische Consequenz des Gleichheitsprincips und der Revolution,
welche die Verwirklichung dieses Princips sich zum Ziele setzte, nicht anerkennen
kann. Sieht er doch für das fallende Königthum, das in seinem Aufschwung
unter Philipp dem Schönen dem Mittelalter ein Ende machte und die neue
Zeit anbahnte, einen Trost darin, daß es in dem unermeßlichen Ruhm einer
jungen Republik zu Grunde ging, die in der Besiegung und Erneuerung
Europas ihre erste Probe ablegte. Was ist aus der republikanischen Herr¬
lichkeit geworden, wohin hat der fanatische Cultus des Gleichheitsprincips,
zu dessen begeistertsten Aposteln ja auch Michelet gehört, Frankreich geführt!

Wenn das römische Cäsarenthum die Gleichheit gewissermaßen zum
Staatsprincip erhoben hat, so liegt die Gleichheit als Grundlage des gesell¬
schaftlichen Daseins doch im Charakter des gallischen Stammes, und Rom
hat in dieser Beziehung nach Gallien eigentlich nichts Neues gebracht, sondern
nur den Grund zur staatlichen Organisation und Entwickelung eines im
gallischen Volkscharakter bereits vorhandenen und tief in ihm eingewurzelten
Princips gelegt. Das Streben nach socialer Gleichheit und nach politischer
Concentration der Nation in einem großen Mittelpunkte und unter einer
Alles leitenden und regelnden Gewalt, das sind ja in der That die treibenden
Kräfte der französischen Geschichte. Aber die großen Triebfedern in der Ge¬
schichte eines Volkes lassen sich fast nirgends, und auch in Frankreich nicht,
mit Sicherheit ausschließlich aus dem ursprünglichen Nationalcharakter ab¬
leiten; sie treten allmählich im Laufe der Ereignisse hervor, sie entwickeln sich
aus ihnen, bis sie nach und nach die Kraft gewinnen, selbst bestimmend auf
die Entwickelung einzuwirken. Der Zeitpunkt, wann ein Princip die Ge¬
schichte eines Volkes zu beherrschen beginnt, läßt sich natürlich niemals genau
bestimmen, da die Uebergänge in der Geschichte sich allmählich vollziehen.
So viel kann indessen mit Sicherheit behauptet werden, daß von Philipp
dem Schönen, vielleicht auch schon von Philipp August an, das Königthum
mit klarem Bewußtsein und zäher Consequenz auf das Ziel hinarbeitet,
welches die neueste Geschichte Frankreichs erreicht hat, und daß alle Hinder¬
nisse, welche der für seine Selbständigkeit kämpfende Adel dem Königthum auf


Michelet nicht eingesteht, naturgemäß zum Cäsarismus zurückführt. „Den
großen Namen des Reichs, diese Idee der Gleichheit unter einem Monarchen,
so entgegengesetzt dem aristokratischen Princip Germaniens, hat Rom in den
Boden Galliens gesenkt. Die barbarischen Könige haben ihren Gewinn
daraus ziehen können. Gepflegt von der Kirche, freudig aufgenommen vom
Volke, wird diese Idee ihren Weg machen durch die Zeiten der Karolinger
und der Capetinger. Sie wird uns Schritt für Schritt zur Vernichtung der
Aristokratie, zur gesellschaftlichen und politischen Gleichheit der neuesten Zeit
führen!" Aber auch zum modernen Kaiserthum: eine Thatsache, die Michelet
freilich als logische Consequenz des Gleichheitsprincips und der Revolution,
welche die Verwirklichung dieses Princips sich zum Ziele setzte, nicht anerkennen
kann. Sieht er doch für das fallende Königthum, das in seinem Aufschwung
unter Philipp dem Schönen dem Mittelalter ein Ende machte und die neue
Zeit anbahnte, einen Trost darin, daß es in dem unermeßlichen Ruhm einer
jungen Republik zu Grunde ging, die in der Besiegung und Erneuerung
Europas ihre erste Probe ablegte. Was ist aus der republikanischen Herr¬
lichkeit geworden, wohin hat der fanatische Cultus des Gleichheitsprincips,
zu dessen begeistertsten Aposteln ja auch Michelet gehört, Frankreich geführt!

Wenn das römische Cäsarenthum die Gleichheit gewissermaßen zum
Staatsprincip erhoben hat, so liegt die Gleichheit als Grundlage des gesell¬
schaftlichen Daseins doch im Charakter des gallischen Stammes, und Rom
hat in dieser Beziehung nach Gallien eigentlich nichts Neues gebracht, sondern
nur den Grund zur staatlichen Organisation und Entwickelung eines im
gallischen Volkscharakter bereits vorhandenen und tief in ihm eingewurzelten
Princips gelegt. Das Streben nach socialer Gleichheit und nach politischer
Concentration der Nation in einem großen Mittelpunkte und unter einer
Alles leitenden und regelnden Gewalt, das sind ja in der That die treibenden
Kräfte der französischen Geschichte. Aber die großen Triebfedern in der Ge¬
schichte eines Volkes lassen sich fast nirgends, und auch in Frankreich nicht,
mit Sicherheit ausschließlich aus dem ursprünglichen Nationalcharakter ab¬
leiten; sie treten allmählich im Laufe der Ereignisse hervor, sie entwickeln sich
aus ihnen, bis sie nach und nach die Kraft gewinnen, selbst bestimmend auf
die Entwickelung einzuwirken. Der Zeitpunkt, wann ein Princip die Ge¬
schichte eines Volkes zu beherrschen beginnt, läßt sich natürlich niemals genau
bestimmen, da die Uebergänge in der Geschichte sich allmählich vollziehen.
So viel kann indessen mit Sicherheit behauptet werden, daß von Philipp
dem Schönen, vielleicht auch schon von Philipp August an, das Königthum
mit klarem Bewußtsein und zäher Consequenz auf das Ziel hinarbeitet,
welches die neueste Geschichte Frankreichs erreicht hat, und daß alle Hinder¬
nisse, welche der für seine Selbständigkeit kämpfende Adel dem Königthum auf


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[0498] Michelet nicht eingesteht, naturgemäß zum Cäsarismus zurückführt. „Den großen Namen des Reichs, diese Idee der Gleichheit unter einem Monarchen, so entgegengesetzt dem aristokratischen Princip Germaniens, hat Rom in den Boden Galliens gesenkt. Die barbarischen Könige haben ihren Gewinn daraus ziehen können. Gepflegt von der Kirche, freudig aufgenommen vom Volke, wird diese Idee ihren Weg machen durch die Zeiten der Karolinger und der Capetinger. Sie wird uns Schritt für Schritt zur Vernichtung der Aristokratie, zur gesellschaftlichen und politischen Gleichheit der neuesten Zeit führen!" Aber auch zum modernen Kaiserthum: eine Thatsache, die Michelet freilich als logische Consequenz des Gleichheitsprincips und der Revolution, welche die Verwirklichung dieses Princips sich zum Ziele setzte, nicht anerkennen kann. Sieht er doch für das fallende Königthum, das in seinem Aufschwung unter Philipp dem Schönen dem Mittelalter ein Ende machte und die neue Zeit anbahnte, einen Trost darin, daß es in dem unermeßlichen Ruhm einer jungen Republik zu Grunde ging, die in der Besiegung und Erneuerung Europas ihre erste Probe ablegte. Was ist aus der republikanischen Herr¬ lichkeit geworden, wohin hat der fanatische Cultus des Gleichheitsprincips, zu dessen begeistertsten Aposteln ja auch Michelet gehört, Frankreich geführt! Wenn das römische Cäsarenthum die Gleichheit gewissermaßen zum Staatsprincip erhoben hat, so liegt die Gleichheit als Grundlage des gesell¬ schaftlichen Daseins doch im Charakter des gallischen Stammes, und Rom hat in dieser Beziehung nach Gallien eigentlich nichts Neues gebracht, sondern nur den Grund zur staatlichen Organisation und Entwickelung eines im gallischen Volkscharakter bereits vorhandenen und tief in ihm eingewurzelten Princips gelegt. Das Streben nach socialer Gleichheit und nach politischer Concentration der Nation in einem großen Mittelpunkte und unter einer Alles leitenden und regelnden Gewalt, das sind ja in der That die treibenden Kräfte der französischen Geschichte. Aber die großen Triebfedern in der Ge¬ schichte eines Volkes lassen sich fast nirgends, und auch in Frankreich nicht, mit Sicherheit ausschließlich aus dem ursprünglichen Nationalcharakter ab¬ leiten; sie treten allmählich im Laufe der Ereignisse hervor, sie entwickeln sich aus ihnen, bis sie nach und nach die Kraft gewinnen, selbst bestimmend auf die Entwickelung einzuwirken. Der Zeitpunkt, wann ein Princip die Ge¬ schichte eines Volkes zu beherrschen beginnt, läßt sich natürlich niemals genau bestimmen, da die Uebergänge in der Geschichte sich allmählich vollziehen. So viel kann indessen mit Sicherheit behauptet werden, daß von Philipp dem Schönen, vielleicht auch schon von Philipp August an, das Königthum mit klarem Bewußtsein und zäher Consequenz auf das Ziel hinarbeitet, welches die neueste Geschichte Frankreichs erreicht hat, und daß alle Hinder¬ nisse, welche der für seine Selbständigkeit kämpfende Adel dem Königthum auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/498>, abgerufen am 29.06.2024.