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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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seinem Wege entgegenstellte, nur eine um so schärfere Entwickelung des
Princips zur Folge hatten. Das kann Michelet nicht umhin in gewissem
Sinne anzuerkennen; nichtsdestoweniger aber kommt er wiederholt auf seine
Behauptung zurück, daß die Celten den Ruhm haben, das Gesetz der Gleichheit
im Occident begründet zu haben. Aber dies Streben zur Gleichheit, zur
Nivellirung hätte die Menschen isolirt, wenn es nicht in einer lebhaften
Sympathie, welche sie wieder einander näher brachte, ein Gegengewicht ge¬
funden hätte, der Art, daß der Mensch, durch die Gleichheit des Gesetzes vom
Menschen befreit und gelöst, sich wieder anschloß durch ein freiwilliges Band.
So sei es in Frankreich gekommen, und das erkläre seine Größe. "Dadurch
sind wir eine Nation geworden, während die ungemischten Celten ein Clan
geblieben sind."

Zu einer so wunderlichen Paradoxie läßt sich ein Forscher von so gründ¬
licher Gelehrsamkeit, von so durchdringendem Scharfblick durch eine theoretische
Liebhaberei verleiten. Nicht in der Sympathie ist das Gegengewicht gegen
die zersetzende Kraft des absoluten Gleichheitsprincips zu suchen, sondern le¬
diglich in der Energie der Staatsgewalt, die in dem Maße sich steigern mußte,
als jenes Princip sich entwickelte, wie andererseits die Staatsgewalt die
Gleichheit beförderte, weil sie in allen gesellschaftlichen Ungleichheiten ebenso
viel Hindernisse für ihre freie Entfaltung erblickte. Man befreie Frankreich
nur ein Jahr lang völlig von dem Druck feiner Centralgewalt, und man
wird bald mit Schrecken sehen, ob die gerühmte Sympathie, welche die Ge¬
sellschaft binden soll, im Stande sein wird, ihren Zerfall, ihre Auslösung
in Atome zu verhindern. Wo die Gleichheit das höchste Princip, das einzige
Lebensgesetz ist, da kann die Gesellschaft nur durch eine starke Hand und
kräftige Mittel zusammengehalten werden, in revolutionären Zeiten durch
die Guillotine, in ruhigeren Zeiten durch ein allmächtiges wohl disciplinirtes
Beamtenthum, das durch seine rücksichtslose Strenge Furcht und Vertrauen
zugleich zu erwecken weiß; für die Freiheit ist in Frankreich kein Platz
geblieben. Der französische Freiheitssinn ist Nichts als der zügellose Trieb
des Individuums nach persönlicher Geltung, also die natürliche Reaction der
Persönlichkeit gegen das Gleichheitsprincip, das nun einmal die Grundlage
der französischen Gesellschaft geworden, die in Trümmer zerfallen würde, wenn
jenem natürlichen Triebe der Persönlichkeit in der Macht des centralisirten
Staats nicht eine Schranke gesetzt würde. Daher kann auch der Parlamen¬
tarismus in Frankreich keine Wurzeln schlagen, da der Freiheitssinn der
Individuen und Parteien sich ausschließlich in dem Streben nach Macht und
Herrschaft äußert, für welches die politischen Grundsätze nur ein Deck¬
mantel sind.

Michelet schwärmt, wie die meisten Franzosen für bürgerliche und politische


seinem Wege entgegenstellte, nur eine um so schärfere Entwickelung des
Princips zur Folge hatten. Das kann Michelet nicht umhin in gewissem
Sinne anzuerkennen; nichtsdestoweniger aber kommt er wiederholt auf seine
Behauptung zurück, daß die Celten den Ruhm haben, das Gesetz der Gleichheit
im Occident begründet zu haben. Aber dies Streben zur Gleichheit, zur
Nivellirung hätte die Menschen isolirt, wenn es nicht in einer lebhaften
Sympathie, welche sie wieder einander näher brachte, ein Gegengewicht ge¬
funden hätte, der Art, daß der Mensch, durch die Gleichheit des Gesetzes vom
Menschen befreit und gelöst, sich wieder anschloß durch ein freiwilliges Band.
So sei es in Frankreich gekommen, und das erkläre seine Größe. „Dadurch
sind wir eine Nation geworden, während die ungemischten Celten ein Clan
geblieben sind."

Zu einer so wunderlichen Paradoxie läßt sich ein Forscher von so gründ¬
licher Gelehrsamkeit, von so durchdringendem Scharfblick durch eine theoretische
Liebhaberei verleiten. Nicht in der Sympathie ist das Gegengewicht gegen
die zersetzende Kraft des absoluten Gleichheitsprincips zu suchen, sondern le¬
diglich in der Energie der Staatsgewalt, die in dem Maße sich steigern mußte,
als jenes Princip sich entwickelte, wie andererseits die Staatsgewalt die
Gleichheit beförderte, weil sie in allen gesellschaftlichen Ungleichheiten ebenso
viel Hindernisse für ihre freie Entfaltung erblickte. Man befreie Frankreich
nur ein Jahr lang völlig von dem Druck feiner Centralgewalt, und man
wird bald mit Schrecken sehen, ob die gerühmte Sympathie, welche die Ge¬
sellschaft binden soll, im Stande sein wird, ihren Zerfall, ihre Auslösung
in Atome zu verhindern. Wo die Gleichheit das höchste Princip, das einzige
Lebensgesetz ist, da kann die Gesellschaft nur durch eine starke Hand und
kräftige Mittel zusammengehalten werden, in revolutionären Zeiten durch
die Guillotine, in ruhigeren Zeiten durch ein allmächtiges wohl disciplinirtes
Beamtenthum, das durch seine rücksichtslose Strenge Furcht und Vertrauen
zugleich zu erwecken weiß; für die Freiheit ist in Frankreich kein Platz
geblieben. Der französische Freiheitssinn ist Nichts als der zügellose Trieb
des Individuums nach persönlicher Geltung, also die natürliche Reaction der
Persönlichkeit gegen das Gleichheitsprincip, das nun einmal die Grundlage
der französischen Gesellschaft geworden, die in Trümmer zerfallen würde, wenn
jenem natürlichen Triebe der Persönlichkeit in der Macht des centralisirten
Staats nicht eine Schranke gesetzt würde. Daher kann auch der Parlamen¬
tarismus in Frankreich keine Wurzeln schlagen, da der Freiheitssinn der
Individuen und Parteien sich ausschließlich in dem Streben nach Macht und
Herrschaft äußert, für welches die politischen Grundsätze nur ein Deck¬
mantel sind.

Michelet schwärmt, wie die meisten Franzosen für bürgerliche und politische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/499>, abgerufen am 26.06.2024.