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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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fremder Elemente auf die Bildung der französischen Nationalität ganz ab¬
weisen möchten. Jedenfalls hat aber auch nach seiner vollkommen begründeten
Ansicht, der gallische Charakter, dessen außerordentliche Zähigkeit und Lebens¬
kraft unbestreitbar ist, durch die verschiedenen Völkerschichten, die sich auf dem
Boden des Landes theils neben, theils übereinander abgelagert, theils sich
untereinander und mit der alten Bevölkerung organisch durchdrungen haben,
keineswegs erstickt werden können. Der gallische Stamm, "die sympathischste
und vervollkommnungsfähigste aller menschlichen Racen", hat, obgleich unter¬
drückt, doch den fremden Stämmen gegenüber ungefähr dieselbe Rolle gespielt,
wie Paris in den späteren Zeiten dem übrigen Frankreich gegenüber. Er hat
die fremden Bestandtheile aufgesogen, sich assimilirt und zu einer neuen mit
dem gallischen Stempel bezeichneten Nationalität umgewandelt. Das Bild,
welches die alten Schriftsteller von den Galliern entwerfen, läßt er gelten,
aber wie weiß er es zu idealisiren! Das Genie der Gallier ist zuerst Nichts
als Bewegung, Angriff und Eroberung; mit dem Schwert in der Hand
durchziehen sie die Welt, weniger aus Habgier (das ist denn doch eine Be¬
hauptung , die mit allen Angaben der Alten in Widerspruch steht), als aus
einem unbestimmten Verlangen, zu sehen, zu lernen, zu handeln, zertrümmernd,
zerstörend, weil sie noch nicht zu schaffen verstehen.

Auf Michelet's geistvolle Ansichten über den Einfluß der verschiedenen
Stämme, die nacheinander den französischen Boden occupirt haben, etnzugehn,
würde zu weit führen. Im Allgemeinen verfolgt er, während er die civili-
sirende Einwirkung des römischen Elements sehr hoch anschlägt, die Tendenz,
den germanischen Einfluß als möglichst gering darzustellen, ja er betrachtet
gewissermaßen die geistige Ueberwindung des germanischen Elements als das
große Ergebniß des Verschmelzungsprocesses, wie er denn auch den Gegensatz
des Französischen und Germanischen bei jeder Gelegenheit hervortreten läßt.
Was von Rom in Gallien bleibt, ist in seiner Wirkung unermeßlich. Es
läßt dort die Organisation, die Verwaltung zurück. Es hat die Stadt ge¬
gründet, während Gallien vorher nur Dörfer und Flecken hatte. So groß
ist die Gewalt der römischen Organisation, daß selbst die Barbaren sich ihr
unterwerfen müssen. Gewissermaßen finden die Römer in Gallien ein ver¬
wandtes Element vor. Denn das Princip der Gleichheit ist dem gallischen
Genius angeboren, und da Micheler dies Princip mit einer den Franzosen
sehr geläufigen Verwechselung dem der freien Persönlichkeit gleichsetzt, so nimmt
er an manchen Stellen geradezu eine Identität des Hellenischen, in dem dies
letztere Princip sich viel schärfer, als im Römischen entwickelt findet, und des
Gallischen an; das Helleno-Celtische wird ihm zu einem ganz besonderen
selbständigen Völkertypus. Aber seine politische Form erhält das Gleichheits-
Prtncip erst durch das Römerthum, den Cäsarismus, wie es, was freilich


Grenzboten III. 1874. 62

fremder Elemente auf die Bildung der französischen Nationalität ganz ab¬
weisen möchten. Jedenfalls hat aber auch nach seiner vollkommen begründeten
Ansicht, der gallische Charakter, dessen außerordentliche Zähigkeit und Lebens¬
kraft unbestreitbar ist, durch die verschiedenen Völkerschichten, die sich auf dem
Boden des Landes theils neben, theils übereinander abgelagert, theils sich
untereinander und mit der alten Bevölkerung organisch durchdrungen haben,
keineswegs erstickt werden können. Der gallische Stamm, „die sympathischste
und vervollkommnungsfähigste aller menschlichen Racen", hat, obgleich unter¬
drückt, doch den fremden Stämmen gegenüber ungefähr dieselbe Rolle gespielt,
wie Paris in den späteren Zeiten dem übrigen Frankreich gegenüber. Er hat
die fremden Bestandtheile aufgesogen, sich assimilirt und zu einer neuen mit
dem gallischen Stempel bezeichneten Nationalität umgewandelt. Das Bild,
welches die alten Schriftsteller von den Galliern entwerfen, läßt er gelten,
aber wie weiß er es zu idealisiren! Das Genie der Gallier ist zuerst Nichts
als Bewegung, Angriff und Eroberung; mit dem Schwert in der Hand
durchziehen sie die Welt, weniger aus Habgier (das ist denn doch eine Be¬
hauptung , die mit allen Angaben der Alten in Widerspruch steht), als aus
einem unbestimmten Verlangen, zu sehen, zu lernen, zu handeln, zertrümmernd,
zerstörend, weil sie noch nicht zu schaffen verstehen.

Auf Michelet's geistvolle Ansichten über den Einfluß der verschiedenen
Stämme, die nacheinander den französischen Boden occupirt haben, etnzugehn,
würde zu weit führen. Im Allgemeinen verfolgt er, während er die civili-
sirende Einwirkung des römischen Elements sehr hoch anschlägt, die Tendenz,
den germanischen Einfluß als möglichst gering darzustellen, ja er betrachtet
gewissermaßen die geistige Ueberwindung des germanischen Elements als das
große Ergebniß des Verschmelzungsprocesses, wie er denn auch den Gegensatz
des Französischen und Germanischen bei jeder Gelegenheit hervortreten läßt.
Was von Rom in Gallien bleibt, ist in seiner Wirkung unermeßlich. Es
läßt dort die Organisation, die Verwaltung zurück. Es hat die Stadt ge¬
gründet, während Gallien vorher nur Dörfer und Flecken hatte. So groß
ist die Gewalt der römischen Organisation, daß selbst die Barbaren sich ihr
unterwerfen müssen. Gewissermaßen finden die Römer in Gallien ein ver¬
wandtes Element vor. Denn das Princip der Gleichheit ist dem gallischen
Genius angeboren, und da Micheler dies Princip mit einer den Franzosen
sehr geläufigen Verwechselung dem der freien Persönlichkeit gleichsetzt, so nimmt
er an manchen Stellen geradezu eine Identität des Hellenischen, in dem dies
letztere Princip sich viel schärfer, als im Römischen entwickelt findet, und des
Gallischen an; das Helleno-Celtische wird ihm zu einem ganz besonderen
selbständigen Völkertypus. Aber seine politische Form erhält das Gleichheits-
Prtncip erst durch das Römerthum, den Cäsarismus, wie es, was freilich


Grenzboten III. 1874. 62
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[0497] fremder Elemente auf die Bildung der französischen Nationalität ganz ab¬ weisen möchten. Jedenfalls hat aber auch nach seiner vollkommen begründeten Ansicht, der gallische Charakter, dessen außerordentliche Zähigkeit und Lebens¬ kraft unbestreitbar ist, durch die verschiedenen Völkerschichten, die sich auf dem Boden des Landes theils neben, theils übereinander abgelagert, theils sich untereinander und mit der alten Bevölkerung organisch durchdrungen haben, keineswegs erstickt werden können. Der gallische Stamm, „die sympathischste und vervollkommnungsfähigste aller menschlichen Racen", hat, obgleich unter¬ drückt, doch den fremden Stämmen gegenüber ungefähr dieselbe Rolle gespielt, wie Paris in den späteren Zeiten dem übrigen Frankreich gegenüber. Er hat die fremden Bestandtheile aufgesogen, sich assimilirt und zu einer neuen mit dem gallischen Stempel bezeichneten Nationalität umgewandelt. Das Bild, welches die alten Schriftsteller von den Galliern entwerfen, läßt er gelten, aber wie weiß er es zu idealisiren! Das Genie der Gallier ist zuerst Nichts als Bewegung, Angriff und Eroberung; mit dem Schwert in der Hand durchziehen sie die Welt, weniger aus Habgier (das ist denn doch eine Be¬ hauptung , die mit allen Angaben der Alten in Widerspruch steht), als aus einem unbestimmten Verlangen, zu sehen, zu lernen, zu handeln, zertrümmernd, zerstörend, weil sie noch nicht zu schaffen verstehen. Auf Michelet's geistvolle Ansichten über den Einfluß der verschiedenen Stämme, die nacheinander den französischen Boden occupirt haben, etnzugehn, würde zu weit führen. Im Allgemeinen verfolgt er, während er die civili- sirende Einwirkung des römischen Elements sehr hoch anschlägt, die Tendenz, den germanischen Einfluß als möglichst gering darzustellen, ja er betrachtet gewissermaßen die geistige Ueberwindung des germanischen Elements als das große Ergebniß des Verschmelzungsprocesses, wie er denn auch den Gegensatz des Französischen und Germanischen bei jeder Gelegenheit hervortreten läßt. Was von Rom in Gallien bleibt, ist in seiner Wirkung unermeßlich. Es läßt dort die Organisation, die Verwaltung zurück. Es hat die Stadt ge¬ gründet, während Gallien vorher nur Dörfer und Flecken hatte. So groß ist die Gewalt der römischen Organisation, daß selbst die Barbaren sich ihr unterwerfen müssen. Gewissermaßen finden die Römer in Gallien ein ver¬ wandtes Element vor. Denn das Princip der Gleichheit ist dem gallischen Genius angeboren, und da Micheler dies Princip mit einer den Franzosen sehr geläufigen Verwechselung dem der freien Persönlichkeit gleichsetzt, so nimmt er an manchen Stellen geradezu eine Identität des Hellenischen, in dem dies letztere Princip sich viel schärfer, als im Römischen entwickelt findet, und des Gallischen an; das Helleno-Celtische wird ihm zu einem ganz besonderen selbständigen Völkertypus. Aber seine politische Form erhält das Gleichheits- Prtncip erst durch das Römerthum, den Cäsarismus, wie es, was freilich Grenzboten III. 1874. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/497>, abgerufen am 01.07.2024.