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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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höheren Form; kaum erkennen sie sich wieder. Niranturtzue rwvas tronäes
et non sua xoma.."

Michelet erkennt die Schattenseiten dieser absorbirenden Kraft des Cen¬
trums sehr wohl, er gesteht zu, daß der Fremde, der die Grenze überschreitet
und Frankreich mit den angrenzenden Ländern vergleicht, zuerst keinen gün¬
stigen Eindruck empfangen kann. Es giebt wenig Seiten, wo die Fremde
nicht überlegen scheint. Von Mons nach Valenciennes, von Dover nach
Calais ist der Unterschied peinlich. Die Normandie ist ein abgeblaßtes Eng¬
land. Elsaß ist ein Deutschland, entbehrt aber dessen, was Deutschlands
Ruhm ausmacht: der Wissensfülle, der philosophischen Tiefe, der poetischen
Naivetät. Aber man muß Frankreich nicht Stück für Stück, sondern als ein
Ganzes betrachten. Gerade weil die Centralisation mächtig, das gemeinsame
Leben stark und energisch ist. gerade deshalb ist das örtliche Leben schwach.
Und darin eben liegt die Schönheit Frankreichs. Man findet in demselben
nicht wie in Deutschland zwanzig Mittelpunkte der Kunst und Wissenschaft.
"England ist ein Reich, Deutschland ein Land, Frankreich eine Person" heißt
es in einer Wendung, um die selbst Victor Hugo den Verfasser beneiden
könnte.

Die Schilderung des Charakters von Paris wäre der Schlußstein der
Geschichte Frankreichs! Paris ist die große Werkstatt, die den Rohstoff ver¬
arbeitet und mit ihrem Stempel versieht, den Frankreich ihr liefert, mit dem
Frankreich sie nährt, den Frankreich nur in der Form und den oft homöo¬
pathischen Dosen wiederempfängt, die Paris ihm zu verabreichen für gut
findet! Wie wunderbar, daß diesem scharfsinnigen, mit dem umfassendsten
Studium der Vergangenheit genährten Kopf nicht der Gedanke kommt, daß
diese gepriesene Herrlichkeit der Hauptstadt die Ursache der nervösen Ueber-
reizung der Nation ist, die er oft so bitter beklagt! Wenn dem Studium
der Geschichte gleichsam der provrdentielle Beruf zugefallen schien, Frankreich
aus dem verhängnißvollen. revolutionären Cirkel, in dem es festgebannt ist,
herauszuziehen, so zeigt eben Michelet's Beispiel, wie es gekommen ist. daß
die Geschichtsforschung diesen Beruf nicht erfüllt hat, nicht erfüllen konnte. Alle
Studien vermochten nicht, ihm die Augen über das große nationale Uebel zu
öffnen, an dem Frankreich krankte; ja die Centralisation war ihm nicht bloß ein
Ergebniß der französischen Geschichte, sie ist das Ergebniß "der lebendigen und
hinreißenden Sympathie des gallischen Genius, seines socialen Instinkts",
also eine tief in dem Nationalcharakter begründete Erscheinung, die eben
darin, daß sie der nationalen Eigenart entspricht und ihr gewissermaßen den
schärfsten Ausdruck giebt, ihre geschichtliche Berechtigung findet.

Es ist schon auf Michelet's Vorliebe für das gallische Element hinge¬
wiesen. Er gehört zwar keineswegs zu den Gallomanen, die den Einfluß


höheren Form; kaum erkennen sie sich wieder. Niranturtzue rwvas tronäes
et non sua xoma.."

Michelet erkennt die Schattenseiten dieser absorbirenden Kraft des Cen¬
trums sehr wohl, er gesteht zu, daß der Fremde, der die Grenze überschreitet
und Frankreich mit den angrenzenden Ländern vergleicht, zuerst keinen gün¬
stigen Eindruck empfangen kann. Es giebt wenig Seiten, wo die Fremde
nicht überlegen scheint. Von Mons nach Valenciennes, von Dover nach
Calais ist der Unterschied peinlich. Die Normandie ist ein abgeblaßtes Eng¬
land. Elsaß ist ein Deutschland, entbehrt aber dessen, was Deutschlands
Ruhm ausmacht: der Wissensfülle, der philosophischen Tiefe, der poetischen
Naivetät. Aber man muß Frankreich nicht Stück für Stück, sondern als ein
Ganzes betrachten. Gerade weil die Centralisation mächtig, das gemeinsame
Leben stark und energisch ist. gerade deshalb ist das örtliche Leben schwach.
Und darin eben liegt die Schönheit Frankreichs. Man findet in demselben
nicht wie in Deutschland zwanzig Mittelpunkte der Kunst und Wissenschaft.
„England ist ein Reich, Deutschland ein Land, Frankreich eine Person" heißt
es in einer Wendung, um die selbst Victor Hugo den Verfasser beneiden
könnte.

Die Schilderung des Charakters von Paris wäre der Schlußstein der
Geschichte Frankreichs! Paris ist die große Werkstatt, die den Rohstoff ver¬
arbeitet und mit ihrem Stempel versieht, den Frankreich ihr liefert, mit dem
Frankreich sie nährt, den Frankreich nur in der Form und den oft homöo¬
pathischen Dosen wiederempfängt, die Paris ihm zu verabreichen für gut
findet! Wie wunderbar, daß diesem scharfsinnigen, mit dem umfassendsten
Studium der Vergangenheit genährten Kopf nicht der Gedanke kommt, daß
diese gepriesene Herrlichkeit der Hauptstadt die Ursache der nervösen Ueber-
reizung der Nation ist, die er oft so bitter beklagt! Wenn dem Studium
der Geschichte gleichsam der provrdentielle Beruf zugefallen schien, Frankreich
aus dem verhängnißvollen. revolutionären Cirkel, in dem es festgebannt ist,
herauszuziehen, so zeigt eben Michelet's Beispiel, wie es gekommen ist. daß
die Geschichtsforschung diesen Beruf nicht erfüllt hat, nicht erfüllen konnte. Alle
Studien vermochten nicht, ihm die Augen über das große nationale Uebel zu
öffnen, an dem Frankreich krankte; ja die Centralisation war ihm nicht bloß ein
Ergebniß der französischen Geschichte, sie ist das Ergebniß „der lebendigen und
hinreißenden Sympathie des gallischen Genius, seines socialen Instinkts",
also eine tief in dem Nationalcharakter begründete Erscheinung, die eben
darin, daß sie der nationalen Eigenart entspricht und ihr gewissermaßen den
schärfsten Ausdruck giebt, ihre geschichtliche Berechtigung findet.

Es ist schon auf Michelet's Vorliebe für das gallische Element hinge¬
wiesen. Er gehört zwar keineswegs zu den Gallomanen, die den Einfluß


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[0496] höheren Form; kaum erkennen sie sich wieder. Niranturtzue rwvas tronäes et non sua xoma.." Michelet erkennt die Schattenseiten dieser absorbirenden Kraft des Cen¬ trums sehr wohl, er gesteht zu, daß der Fremde, der die Grenze überschreitet und Frankreich mit den angrenzenden Ländern vergleicht, zuerst keinen gün¬ stigen Eindruck empfangen kann. Es giebt wenig Seiten, wo die Fremde nicht überlegen scheint. Von Mons nach Valenciennes, von Dover nach Calais ist der Unterschied peinlich. Die Normandie ist ein abgeblaßtes Eng¬ land. Elsaß ist ein Deutschland, entbehrt aber dessen, was Deutschlands Ruhm ausmacht: der Wissensfülle, der philosophischen Tiefe, der poetischen Naivetät. Aber man muß Frankreich nicht Stück für Stück, sondern als ein Ganzes betrachten. Gerade weil die Centralisation mächtig, das gemeinsame Leben stark und energisch ist. gerade deshalb ist das örtliche Leben schwach. Und darin eben liegt die Schönheit Frankreichs. Man findet in demselben nicht wie in Deutschland zwanzig Mittelpunkte der Kunst und Wissenschaft. „England ist ein Reich, Deutschland ein Land, Frankreich eine Person" heißt es in einer Wendung, um die selbst Victor Hugo den Verfasser beneiden könnte. Die Schilderung des Charakters von Paris wäre der Schlußstein der Geschichte Frankreichs! Paris ist die große Werkstatt, die den Rohstoff ver¬ arbeitet und mit ihrem Stempel versieht, den Frankreich ihr liefert, mit dem Frankreich sie nährt, den Frankreich nur in der Form und den oft homöo¬ pathischen Dosen wiederempfängt, die Paris ihm zu verabreichen für gut findet! Wie wunderbar, daß diesem scharfsinnigen, mit dem umfassendsten Studium der Vergangenheit genährten Kopf nicht der Gedanke kommt, daß diese gepriesene Herrlichkeit der Hauptstadt die Ursache der nervösen Ueber- reizung der Nation ist, die er oft so bitter beklagt! Wenn dem Studium der Geschichte gleichsam der provrdentielle Beruf zugefallen schien, Frankreich aus dem verhängnißvollen. revolutionären Cirkel, in dem es festgebannt ist, herauszuziehen, so zeigt eben Michelet's Beispiel, wie es gekommen ist. daß die Geschichtsforschung diesen Beruf nicht erfüllt hat, nicht erfüllen konnte. Alle Studien vermochten nicht, ihm die Augen über das große nationale Uebel zu öffnen, an dem Frankreich krankte; ja die Centralisation war ihm nicht bloß ein Ergebniß der französischen Geschichte, sie ist das Ergebniß „der lebendigen und hinreißenden Sympathie des gallischen Genius, seines socialen Instinkts", also eine tief in dem Nationalcharakter begründete Erscheinung, die eben darin, daß sie der nationalen Eigenart entspricht und ihr gewissermaßen den schärfsten Ausdruck giebt, ihre geschichtliche Berechtigung findet. Es ist schon auf Michelet's Vorliebe für das gallische Element hinge¬ wiesen. Er gehört zwar keineswegs zu den Gallomanen, die den Einfluß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/496>, abgerufen am 03.07.2024.