Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mit einem liebevollen Verständniß für die Eigenthümlichkeiten der Landschaft
und der Volkscharaktere, die wahrhaft erfreulich ist. Zum Schluß aber läuft
die ganze Schilderung doch auf eine Verherrlichung der Centralisation hinaus,
die im Grunde nur den Schein individuellen Lebens, nicht das individuelle
Leben selbst duldet. "Wer Paris nennt, heißt es u. a., nennt die ganze
Monarchie (1833 geschrieben). Wie hat sich eine Stadt zu diesem großen
und vollkommenen Ideal des Landes ausgebildet? Das ließe sich nur aus
der ganzen Geschichte des Landes erklären: die Beschreibung von Paris
würde das letzte Kapitel derselben sein. Der Pariser Geist (Z6ins)
ist die verwickeltste und zugleich die höchste Form Frankreichs. Man sollte
glauben, daß ein Etwas, das aus der Vernichtung alles örtlichen Geistes,
aller Provinciellen Eigenthümlichkeit hervorginge, rein negativ sein müßte.
Es ist nicht so. Aus allen den Vereinigungen nationaler, localer, provincieller
Ideen entspringt eine lebende Allgemeinheit, eine positive Wahrheit, eine
lebendige Kraft. Wir haben es im Juli gesehen!" Frankreich ist ihm ein
gewaltiger Organismus von machtvoll wirksamer Zusammensetzung. "Es ist
ein wunderbares Schauspiel vom Centrum aus mit einem Blick diesen
Organismus zu umfassen, in dem die verschiedenen Theile so zweckmäßig
aneinander gerückt, entgegen gesetzt, verbunden sind. Das Schwache mit dem
Starken, das Negative mit dem Positiven; zu sehen das beredte und wein¬
reiche Burgund zwischen der ironischen Naivetät der Champagne und der
kritischen, streitsüchtigen, kriegerischen Strenge der Franche - Comte' und
Lothringens; zu sehen den Fanatismus Languedocs in Mitten der proven-
calischen Leichtlebigkeit und der gascognischen Gleichgültigkeit; zu sehen, wie
der Ehrgeiz und eroberungssüchtige Geist der Normandie in Schranken ge¬
halten wird von der widerstandskräftigen Bretagne und dem behäbigen und
massiven Flandern." "Die Kraft und die Schönheit des Ganzen bestehen in
der Gegenseitigkeit der Unterstützung, in der festen Verbindung der Theile, in
der Gliederung der Leistungen, in der Theilung der gesellschaftlichen Arbeit.
Die Kraft des Widerstandes und des Angriffs, die Tüchtigkeit des Handels
liegen in dem äußersten Theile, die Intelligenz im Centrum; das Centrum
kennt sich selbst und den ganzen Rest. Die Grenzprovinzen, indem
sie unmittelbar an der Vertheidigung mitwirken, bewahren die militärischen
Ueberlieferungen, pflanzen den barbarischen Heroismus fort und führen un¬
aufhörlich dem durch die rasche Reibung der socialen Kreisbewegung entnervten
Centrum die Kräfte einer energischen Bevölkerung zu. Das Centrum, vor
dem Kriege geschützt, denkt, neuere und erfindet in der Industrie, in der
Wissenschaft, in der Politik: es formt Alles um, was es empfängt, es schlürft
die ihm zugeführten Lebenssäfte und diese gestalten sich um. Die Provinzen
betrachten sich im Centrum; in ihm leben und bewundern sie sich unter einer


mit einem liebevollen Verständniß für die Eigenthümlichkeiten der Landschaft
und der Volkscharaktere, die wahrhaft erfreulich ist. Zum Schluß aber läuft
die ganze Schilderung doch auf eine Verherrlichung der Centralisation hinaus,
die im Grunde nur den Schein individuellen Lebens, nicht das individuelle
Leben selbst duldet. „Wer Paris nennt, heißt es u. a., nennt die ganze
Monarchie (1833 geschrieben). Wie hat sich eine Stadt zu diesem großen
und vollkommenen Ideal des Landes ausgebildet? Das ließe sich nur aus
der ganzen Geschichte des Landes erklären: die Beschreibung von Paris
würde das letzte Kapitel derselben sein. Der Pariser Geist (Z6ins)
ist die verwickeltste und zugleich die höchste Form Frankreichs. Man sollte
glauben, daß ein Etwas, das aus der Vernichtung alles örtlichen Geistes,
aller Provinciellen Eigenthümlichkeit hervorginge, rein negativ sein müßte.
Es ist nicht so. Aus allen den Vereinigungen nationaler, localer, provincieller
Ideen entspringt eine lebende Allgemeinheit, eine positive Wahrheit, eine
lebendige Kraft. Wir haben es im Juli gesehen!" Frankreich ist ihm ein
gewaltiger Organismus von machtvoll wirksamer Zusammensetzung. „Es ist
ein wunderbares Schauspiel vom Centrum aus mit einem Blick diesen
Organismus zu umfassen, in dem die verschiedenen Theile so zweckmäßig
aneinander gerückt, entgegen gesetzt, verbunden sind. Das Schwache mit dem
Starken, das Negative mit dem Positiven; zu sehen das beredte und wein¬
reiche Burgund zwischen der ironischen Naivetät der Champagne und der
kritischen, streitsüchtigen, kriegerischen Strenge der Franche - Comte' und
Lothringens; zu sehen den Fanatismus Languedocs in Mitten der proven-
calischen Leichtlebigkeit und der gascognischen Gleichgültigkeit; zu sehen, wie
der Ehrgeiz und eroberungssüchtige Geist der Normandie in Schranken ge¬
halten wird von der widerstandskräftigen Bretagne und dem behäbigen und
massiven Flandern." „Die Kraft und die Schönheit des Ganzen bestehen in
der Gegenseitigkeit der Unterstützung, in der festen Verbindung der Theile, in
der Gliederung der Leistungen, in der Theilung der gesellschaftlichen Arbeit.
Die Kraft des Widerstandes und des Angriffs, die Tüchtigkeit des Handels
liegen in dem äußersten Theile, die Intelligenz im Centrum; das Centrum
kennt sich selbst und den ganzen Rest. Die Grenzprovinzen, indem
sie unmittelbar an der Vertheidigung mitwirken, bewahren die militärischen
Ueberlieferungen, pflanzen den barbarischen Heroismus fort und führen un¬
aufhörlich dem durch die rasche Reibung der socialen Kreisbewegung entnervten
Centrum die Kräfte einer energischen Bevölkerung zu. Das Centrum, vor
dem Kriege geschützt, denkt, neuere und erfindet in der Industrie, in der
Wissenschaft, in der Politik: es formt Alles um, was es empfängt, es schlürft
die ihm zugeführten Lebenssäfte und diese gestalten sich um. Die Provinzen
betrachten sich im Centrum; in ihm leben und bewundern sie sich unter einer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132189"/>
          <p xml:id="ID_1645" prev="#ID_1644" next="#ID_1646"> mit einem liebevollen Verständniß für die Eigenthümlichkeiten der Landschaft<lb/>
und der Volkscharaktere, die wahrhaft erfreulich ist. Zum Schluß aber läuft<lb/>
die ganze Schilderung doch auf eine Verherrlichung der Centralisation hinaus,<lb/>
die im Grunde nur den Schein individuellen Lebens, nicht das individuelle<lb/>
Leben selbst duldet. &#x201E;Wer Paris nennt, heißt es u. a., nennt die ganze<lb/>
Monarchie (1833 geschrieben). Wie hat sich eine Stadt zu diesem großen<lb/>
und vollkommenen Ideal des Landes ausgebildet? Das ließe sich nur aus<lb/>
der ganzen Geschichte des Landes erklären: die Beschreibung von Paris<lb/>
würde das letzte Kapitel derselben sein. Der Pariser Geist (Z6ins)<lb/>
ist die verwickeltste und zugleich die höchste Form Frankreichs. Man sollte<lb/>
glauben, daß ein Etwas, das aus der Vernichtung alles örtlichen Geistes,<lb/>
aller Provinciellen Eigenthümlichkeit hervorginge, rein negativ sein müßte.<lb/>
Es ist nicht so. Aus allen den Vereinigungen nationaler, localer, provincieller<lb/>
Ideen entspringt eine lebende Allgemeinheit, eine positive Wahrheit, eine<lb/>
lebendige Kraft. Wir haben es im Juli gesehen!" Frankreich ist ihm ein<lb/>
gewaltiger Organismus von machtvoll wirksamer Zusammensetzung. &#x201E;Es ist<lb/>
ein wunderbares Schauspiel vom Centrum aus mit einem Blick diesen<lb/>
Organismus zu umfassen, in dem die verschiedenen Theile so zweckmäßig<lb/>
aneinander gerückt, entgegen gesetzt, verbunden sind. Das Schwache mit dem<lb/>
Starken, das Negative mit dem Positiven; zu sehen das beredte und wein¬<lb/>
reiche Burgund zwischen der ironischen Naivetät der Champagne und der<lb/>
kritischen, streitsüchtigen, kriegerischen Strenge der Franche - Comte' und<lb/>
Lothringens; zu sehen den Fanatismus Languedocs in Mitten der proven-<lb/>
calischen Leichtlebigkeit und der gascognischen Gleichgültigkeit; zu sehen, wie<lb/>
der Ehrgeiz und eroberungssüchtige Geist der Normandie in Schranken ge¬<lb/>
halten wird von der widerstandskräftigen Bretagne und dem behäbigen und<lb/>
massiven Flandern." &#x201E;Die Kraft und die Schönheit des Ganzen bestehen in<lb/>
der Gegenseitigkeit der Unterstützung, in der festen Verbindung der Theile, in<lb/>
der Gliederung der Leistungen, in der Theilung der gesellschaftlichen Arbeit.<lb/>
Die Kraft des Widerstandes und des Angriffs, die Tüchtigkeit des Handels<lb/>
liegen in dem äußersten Theile, die Intelligenz im Centrum; das Centrum<lb/>
kennt sich selbst und den ganzen Rest. Die Grenzprovinzen, indem<lb/>
sie unmittelbar an der Vertheidigung mitwirken, bewahren die militärischen<lb/>
Ueberlieferungen, pflanzen den barbarischen Heroismus fort und führen un¬<lb/>
aufhörlich dem durch die rasche Reibung der socialen Kreisbewegung entnervten<lb/>
Centrum die Kräfte einer energischen Bevölkerung zu. Das Centrum, vor<lb/>
dem Kriege geschützt, denkt, neuere und erfindet in der Industrie, in der<lb/>
Wissenschaft, in der Politik: es formt Alles um, was es empfängt, es schlürft<lb/>
die ihm zugeführten Lebenssäfte und diese gestalten sich um. Die Provinzen<lb/>
betrachten sich im Centrum; in ihm leben und bewundern sie sich unter einer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0495] mit einem liebevollen Verständniß für die Eigenthümlichkeiten der Landschaft und der Volkscharaktere, die wahrhaft erfreulich ist. Zum Schluß aber läuft die ganze Schilderung doch auf eine Verherrlichung der Centralisation hinaus, die im Grunde nur den Schein individuellen Lebens, nicht das individuelle Leben selbst duldet. „Wer Paris nennt, heißt es u. a., nennt die ganze Monarchie (1833 geschrieben). Wie hat sich eine Stadt zu diesem großen und vollkommenen Ideal des Landes ausgebildet? Das ließe sich nur aus der ganzen Geschichte des Landes erklären: die Beschreibung von Paris würde das letzte Kapitel derselben sein. Der Pariser Geist (Z6ins) ist die verwickeltste und zugleich die höchste Form Frankreichs. Man sollte glauben, daß ein Etwas, das aus der Vernichtung alles örtlichen Geistes, aller Provinciellen Eigenthümlichkeit hervorginge, rein negativ sein müßte. Es ist nicht so. Aus allen den Vereinigungen nationaler, localer, provincieller Ideen entspringt eine lebende Allgemeinheit, eine positive Wahrheit, eine lebendige Kraft. Wir haben es im Juli gesehen!" Frankreich ist ihm ein gewaltiger Organismus von machtvoll wirksamer Zusammensetzung. „Es ist ein wunderbares Schauspiel vom Centrum aus mit einem Blick diesen Organismus zu umfassen, in dem die verschiedenen Theile so zweckmäßig aneinander gerückt, entgegen gesetzt, verbunden sind. Das Schwache mit dem Starken, das Negative mit dem Positiven; zu sehen das beredte und wein¬ reiche Burgund zwischen der ironischen Naivetät der Champagne und der kritischen, streitsüchtigen, kriegerischen Strenge der Franche - Comte' und Lothringens; zu sehen den Fanatismus Languedocs in Mitten der proven- calischen Leichtlebigkeit und der gascognischen Gleichgültigkeit; zu sehen, wie der Ehrgeiz und eroberungssüchtige Geist der Normandie in Schranken ge¬ halten wird von der widerstandskräftigen Bretagne und dem behäbigen und massiven Flandern." „Die Kraft und die Schönheit des Ganzen bestehen in der Gegenseitigkeit der Unterstützung, in der festen Verbindung der Theile, in der Gliederung der Leistungen, in der Theilung der gesellschaftlichen Arbeit. Die Kraft des Widerstandes und des Angriffs, die Tüchtigkeit des Handels liegen in dem äußersten Theile, die Intelligenz im Centrum; das Centrum kennt sich selbst und den ganzen Rest. Die Grenzprovinzen, indem sie unmittelbar an der Vertheidigung mitwirken, bewahren die militärischen Ueberlieferungen, pflanzen den barbarischen Heroismus fort und führen un¬ aufhörlich dem durch die rasche Reibung der socialen Kreisbewegung entnervten Centrum die Kräfte einer energischen Bevölkerung zu. Das Centrum, vor dem Kriege geschützt, denkt, neuere und erfindet in der Industrie, in der Wissenschaft, in der Politik: es formt Alles um, was es empfängt, es schlürft die ihm zugeführten Lebenssäfte und diese gestalten sich um. Die Provinzen betrachten sich im Centrum; in ihm leben und bewundern sie sich unter einer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/495
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/495>, abgerufen am 22.07.2024.