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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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schichte ihrer Vergangenheit einzuführen. Und das ist allerdings zum großen
Theil die Schuld dieser Historiker selbst, die, wie tief sie auch in die Vergangen¬
heit eindrangen, doch, sobald sie sich der Gegenwart zuwandten, sofort in
den Bann der herrschenden Vorurtheile zurückfielen. Keiner von ihnen hatte
es versucht, die praktischen politischen Ergebnisse aus der Geschichte der Ver¬
gangenheit zu ziehen und Michelet vielleicht am wenigsten, der, jemehr er sich
der politischen Strömung der Gegenwart überließ, um so mehr der Herrschaft
der Ideen von 1793 verfiel, die die Staatsmacht keineswegs beschränken,
sondern nur verlegen wollten, die die Grundfehler des Königthums nicht be¬
seitigten, sondern nur verschärften, und was die Könige unvollendet gelassen
hatten, bis in seine äußersten Spitzen entwickelten und zu einem, alle indivi¬
duelle Freiheit ertödtenden eisernen System ausbildeten, dem das Land sich
zu unterwerfen hatte, unter dem Kaiserthum, dem Königthum, der Republik.
Das Centralisationsprincip war den Königen aufgezwungen worden, um die
zügellosen centrifugalen Kräfte zu bändigen: aber es war durch die lange
Gewöhnung den Franzosen in Fleisch und Blut übergangen; sie sehen in
ihm das Symbol und zugleich den Schirm ihrer nationalen Größe. Wie tief
Michelet auch in den Geist der Vergangenheit eingedrungen war, die Einsicht,
daß eine wahrhaft schöpferische reformatorische Staatskunst an die provinciellen
Eigenthümlichkeiten, die sich noch erhalten hatten, anzuknüpfen habe, um den
erstorbenen Sinn für Freiheit und Achtung vor dem Gesetz durch die Bethä¬
tigung an den Angelegenheiten der Gemeinde und Provinzen zu beleben, blieb
ihm verschlossen, ja er würde es. nicht anders wie Thiers, für ein reaktionä¬
res Attentat gegen die nationale Größe gehalten haben, wenn nur der Ver¬
such gemacht wäre, durch eine wahre Belebung des provinciellen selbständig^-
keitsgefühls das Band zu lockern, welches von Paris aus das Land gefesselt
hält. Was Michelet als Freiheit erscheint, ist nur die Verlegung des sou¬
veränen Gesammtwillens vom Königthum in den Demos, dem gegenüber das
Individuum ebenso willenlos ist, wie es der monarchischen Regierung gegen¬
über gewesen war -- ein Cäsarismus unter republikanischer Form.

Im zweiten Theil seiner Geschichte Frankreichs entwirft Michelet ein
meisterhaftes Bild von den Eigenthümlichkeiten der Provinzen und ihrer Be¬
wohner. Es ist eine classische Rundschau, die in der Literatur vielleicht nicht
ihres Gleichen hat. Von Nordwesten ausgehend führt er uns durch die
Schluchten der Vendee, die Rebengelände der Garonne, die Pyrenäenprovinzen,
und so fort bis zum Centrum des Landes, in dem alle Kräfte sich sammeln,
in dem sie geläutert und gebildet werden, um dann wieder civilisirend und
bildend in die Peripherie zurückzuströmen. In kurzen Zügen, aber mit
bewunderungswürdiger Schärfe und einer durchsichtigen Klarheit, wie sie
Michelet nicht immer eigen ist, werden das Land und die Bewohner geschildert.


schichte ihrer Vergangenheit einzuführen. Und das ist allerdings zum großen
Theil die Schuld dieser Historiker selbst, die, wie tief sie auch in die Vergangen¬
heit eindrangen, doch, sobald sie sich der Gegenwart zuwandten, sofort in
den Bann der herrschenden Vorurtheile zurückfielen. Keiner von ihnen hatte
es versucht, die praktischen politischen Ergebnisse aus der Geschichte der Ver¬
gangenheit zu ziehen und Michelet vielleicht am wenigsten, der, jemehr er sich
der politischen Strömung der Gegenwart überließ, um so mehr der Herrschaft
der Ideen von 1793 verfiel, die die Staatsmacht keineswegs beschränken,
sondern nur verlegen wollten, die die Grundfehler des Königthums nicht be¬
seitigten, sondern nur verschärften, und was die Könige unvollendet gelassen
hatten, bis in seine äußersten Spitzen entwickelten und zu einem, alle indivi¬
duelle Freiheit ertödtenden eisernen System ausbildeten, dem das Land sich
zu unterwerfen hatte, unter dem Kaiserthum, dem Königthum, der Republik.
Das Centralisationsprincip war den Königen aufgezwungen worden, um die
zügellosen centrifugalen Kräfte zu bändigen: aber es war durch die lange
Gewöhnung den Franzosen in Fleisch und Blut übergangen; sie sehen in
ihm das Symbol und zugleich den Schirm ihrer nationalen Größe. Wie tief
Michelet auch in den Geist der Vergangenheit eingedrungen war, die Einsicht,
daß eine wahrhaft schöpferische reformatorische Staatskunst an die provinciellen
Eigenthümlichkeiten, die sich noch erhalten hatten, anzuknüpfen habe, um den
erstorbenen Sinn für Freiheit und Achtung vor dem Gesetz durch die Bethä¬
tigung an den Angelegenheiten der Gemeinde und Provinzen zu beleben, blieb
ihm verschlossen, ja er würde es. nicht anders wie Thiers, für ein reaktionä¬
res Attentat gegen die nationale Größe gehalten haben, wenn nur der Ver¬
such gemacht wäre, durch eine wahre Belebung des provinciellen selbständig^-
keitsgefühls das Band zu lockern, welches von Paris aus das Land gefesselt
hält. Was Michelet als Freiheit erscheint, ist nur die Verlegung des sou¬
veränen Gesammtwillens vom Königthum in den Demos, dem gegenüber das
Individuum ebenso willenlos ist, wie es der monarchischen Regierung gegen¬
über gewesen war — ein Cäsarismus unter republikanischer Form.

Im zweiten Theil seiner Geschichte Frankreichs entwirft Michelet ein
meisterhaftes Bild von den Eigenthümlichkeiten der Provinzen und ihrer Be¬
wohner. Es ist eine classische Rundschau, die in der Literatur vielleicht nicht
ihres Gleichen hat. Von Nordwesten ausgehend führt er uns durch die
Schluchten der Vendee, die Rebengelände der Garonne, die Pyrenäenprovinzen,
und so fort bis zum Centrum des Landes, in dem alle Kräfte sich sammeln,
in dem sie geläutert und gebildet werden, um dann wieder civilisirend und
bildend in die Peripherie zurückzuströmen. In kurzen Zügen, aber mit
bewunderungswürdiger Schärfe und einer durchsichtigen Klarheit, wie sie
Michelet nicht immer eigen ist, werden das Land und die Bewohner geschildert.


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[0494] schichte ihrer Vergangenheit einzuführen. Und das ist allerdings zum großen Theil die Schuld dieser Historiker selbst, die, wie tief sie auch in die Vergangen¬ heit eindrangen, doch, sobald sie sich der Gegenwart zuwandten, sofort in den Bann der herrschenden Vorurtheile zurückfielen. Keiner von ihnen hatte es versucht, die praktischen politischen Ergebnisse aus der Geschichte der Ver¬ gangenheit zu ziehen und Michelet vielleicht am wenigsten, der, jemehr er sich der politischen Strömung der Gegenwart überließ, um so mehr der Herrschaft der Ideen von 1793 verfiel, die die Staatsmacht keineswegs beschränken, sondern nur verlegen wollten, die die Grundfehler des Königthums nicht be¬ seitigten, sondern nur verschärften, und was die Könige unvollendet gelassen hatten, bis in seine äußersten Spitzen entwickelten und zu einem, alle indivi¬ duelle Freiheit ertödtenden eisernen System ausbildeten, dem das Land sich zu unterwerfen hatte, unter dem Kaiserthum, dem Königthum, der Republik. Das Centralisationsprincip war den Königen aufgezwungen worden, um die zügellosen centrifugalen Kräfte zu bändigen: aber es war durch die lange Gewöhnung den Franzosen in Fleisch und Blut übergangen; sie sehen in ihm das Symbol und zugleich den Schirm ihrer nationalen Größe. Wie tief Michelet auch in den Geist der Vergangenheit eingedrungen war, die Einsicht, daß eine wahrhaft schöpferische reformatorische Staatskunst an die provinciellen Eigenthümlichkeiten, die sich noch erhalten hatten, anzuknüpfen habe, um den erstorbenen Sinn für Freiheit und Achtung vor dem Gesetz durch die Bethä¬ tigung an den Angelegenheiten der Gemeinde und Provinzen zu beleben, blieb ihm verschlossen, ja er würde es. nicht anders wie Thiers, für ein reaktionä¬ res Attentat gegen die nationale Größe gehalten haben, wenn nur der Ver¬ such gemacht wäre, durch eine wahre Belebung des provinciellen selbständig^- keitsgefühls das Band zu lockern, welches von Paris aus das Land gefesselt hält. Was Michelet als Freiheit erscheint, ist nur die Verlegung des sou¬ veränen Gesammtwillens vom Königthum in den Demos, dem gegenüber das Individuum ebenso willenlos ist, wie es der monarchischen Regierung gegen¬ über gewesen war — ein Cäsarismus unter republikanischer Form. Im zweiten Theil seiner Geschichte Frankreichs entwirft Michelet ein meisterhaftes Bild von den Eigenthümlichkeiten der Provinzen und ihrer Be¬ wohner. Es ist eine classische Rundschau, die in der Literatur vielleicht nicht ihres Gleichen hat. Von Nordwesten ausgehend führt er uns durch die Schluchten der Vendee, die Rebengelände der Garonne, die Pyrenäenprovinzen, und so fort bis zum Centrum des Landes, in dem alle Kräfte sich sammeln, in dem sie geläutert und gebildet werden, um dann wieder civilisirend und bildend in die Peripherie zurückzuströmen. In kurzen Zügen, aber mit bewunderungswürdiger Schärfe und einer durchsichtigen Klarheit, wie sie Michelet nicht immer eigen ist, werden das Land und die Bewohner geschildert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/494>, abgerufen am 22.07.2024.