Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mensch von Gott hat. Diese beiden Säulen des Tempels sind so fest ge¬
gründet, daß Niemand sie angreifen kann. Die Welt wechselt jedoch. Bald
sucht sie nur die Gesetze, bald nur die Ursache. Sie schwankt beständig
zwischen diesen religiösen Polen, aber sie ändert sie nicht. -- Gegenwärtig
leben wir in einer Zeit, wo der Standpunkt der Naturgesetze vorherrscht.
Da die Wissenschaft augenblicklich nicht centralisirt ist. wie sie es bald
sein wird, so sehen Viele nur die Gesetze und vergessen die liebende Ursache,
indem sie sich einbilden, daß die Maschine auch ohne bewegende Kraft (mvtsur
gehen könnte. Dies Bergessen hat die traurige religiöse Verdunkelung
(eclipss) zur Folge, von der wir umnachtet werden. Sie kann nicht lange
dauern. Das schöne Centrallicht, welches die ganze Freude der Welt aus¬
macht, wird wieder erscheinen. Wir werden das augenblicklich geschwächte
Gefühl für die liebende Ursache wieder gewinnen.

Man geht wohl nicht irre, wenn man annimmt, daß Michelet in ge¬
wissen Zeiten für sein persönliches geistiges Bedürfniß an den ewigen Ge¬
setzen vollkommenes Genüge gefunden und daß die Annahme einer liebenden
Ursache in solchen Augenblicken weder eine Forderung des Verstandes noch des
Herzens für ihn war. In Naturstudien vertieft, war er nur bemüht, die
nächsten Ursachen der Erscheinungen, die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze
zu erkennen; die erste Ursache lag außerhalb des Kreises seiner Forschung;
als metaphysisches Problem nahm sie in einer Zeit, wo er auch die Geheim¬
nisse der seelischen und geistigen Natur des Menschen mit dem anatomischen
Secirmesser zu ergründen suchte, seine Aufmerksamkeit wenig in Anspruch.
So wie er sich aber von seinen wissenschaftlichen Studien erholt, empfindet
sein Gemüth das Bedürfniß, an dem Urquell alles Daseins sich zu laben;
aber die Zeit, als deren Kind er sich in vollstem Maße fühlt, hindert ihn.
Sie ist erregt, thätig bis zur Ueberspannung aller Nerven; aber sie ist zer¬
streut, zerfahren, es fehlt ihr der Mittelpunkt. Und doch strebt sie nach der
Einheit. Auch die Wissenschaft will sich centralistren. Ist sie dahin gelangt,
dann wird auch das Gottesbewußtsein wieder in sein Recht treten. Es
leuchtet -- und das ist wieder ein echt französischer Zug -- aus seinen Re¬
flexionen unverkennbar hervor -- daß er mit vollkommen klarem Bewußtsein
in seinen religiösen Vorstellungen ganz von der öffentlichen Meinung der ge¬
bildeten, antiklerikalen Kreise abhängig ist; um für sich eine Entscheidung
zu treffen, wartet er. bis die Wissenschaft so weit "centralisirt" ist, um die
Entscheidung zu treffen, die ihm offenbar die erwünschteste wäre. Solchen
Zügen der Abhängigkeit begegnen wir auch in andern Dingen oft genug,
selvst da, wo er muthig gegen Vorurtheile ankämpft und seinen Landsleuten
die derbsten Wahrheiten sagt. Die französische Demokratie ist eine harte und
unduldsame Tyrannin der Geister: sie will nicht nur den Willen, sondern


Mensch von Gott hat. Diese beiden Säulen des Tempels sind so fest ge¬
gründet, daß Niemand sie angreifen kann. Die Welt wechselt jedoch. Bald
sucht sie nur die Gesetze, bald nur die Ursache. Sie schwankt beständig
zwischen diesen religiösen Polen, aber sie ändert sie nicht. — Gegenwärtig
leben wir in einer Zeit, wo der Standpunkt der Naturgesetze vorherrscht.
Da die Wissenschaft augenblicklich nicht centralisirt ist. wie sie es bald
sein wird, so sehen Viele nur die Gesetze und vergessen die liebende Ursache,
indem sie sich einbilden, daß die Maschine auch ohne bewegende Kraft (mvtsur
gehen könnte. Dies Bergessen hat die traurige religiöse Verdunkelung
(eclipss) zur Folge, von der wir umnachtet werden. Sie kann nicht lange
dauern. Das schöne Centrallicht, welches die ganze Freude der Welt aus¬
macht, wird wieder erscheinen. Wir werden das augenblicklich geschwächte
Gefühl für die liebende Ursache wieder gewinnen.

Man geht wohl nicht irre, wenn man annimmt, daß Michelet in ge¬
wissen Zeiten für sein persönliches geistiges Bedürfniß an den ewigen Ge¬
setzen vollkommenes Genüge gefunden und daß die Annahme einer liebenden
Ursache in solchen Augenblicken weder eine Forderung des Verstandes noch des
Herzens für ihn war. In Naturstudien vertieft, war er nur bemüht, die
nächsten Ursachen der Erscheinungen, die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze
zu erkennen; die erste Ursache lag außerhalb des Kreises seiner Forschung;
als metaphysisches Problem nahm sie in einer Zeit, wo er auch die Geheim¬
nisse der seelischen und geistigen Natur des Menschen mit dem anatomischen
Secirmesser zu ergründen suchte, seine Aufmerksamkeit wenig in Anspruch.
So wie er sich aber von seinen wissenschaftlichen Studien erholt, empfindet
sein Gemüth das Bedürfniß, an dem Urquell alles Daseins sich zu laben;
aber die Zeit, als deren Kind er sich in vollstem Maße fühlt, hindert ihn.
Sie ist erregt, thätig bis zur Ueberspannung aller Nerven; aber sie ist zer¬
streut, zerfahren, es fehlt ihr der Mittelpunkt. Und doch strebt sie nach der
Einheit. Auch die Wissenschaft will sich centralistren. Ist sie dahin gelangt,
dann wird auch das Gottesbewußtsein wieder in sein Recht treten. Es
leuchtet — und das ist wieder ein echt französischer Zug — aus seinen Re¬
flexionen unverkennbar hervor — daß er mit vollkommen klarem Bewußtsein
in seinen religiösen Vorstellungen ganz von der öffentlichen Meinung der ge¬
bildeten, antiklerikalen Kreise abhängig ist; um für sich eine Entscheidung
zu treffen, wartet er. bis die Wissenschaft so weit „centralisirt" ist, um die
Entscheidung zu treffen, die ihm offenbar die erwünschteste wäre. Solchen
Zügen der Abhängigkeit begegnen wir auch in andern Dingen oft genug,
selvst da, wo er muthig gegen Vorurtheile ankämpft und seinen Landsleuten
die derbsten Wahrheiten sagt. Die französische Demokratie ist eine harte und
unduldsame Tyrannin der Geister: sie will nicht nur den Willen, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132154"/>
          <p xml:id="ID_1564" prev="#ID_1563"> Mensch von Gott hat. Diese beiden Säulen des Tempels sind so fest ge¬<lb/>
gründet, daß Niemand sie angreifen kann. Die Welt wechselt jedoch. Bald<lb/>
sucht sie nur die Gesetze, bald nur die Ursache. Sie schwankt beständig<lb/>
zwischen diesen religiösen Polen, aber sie ändert sie nicht. &#x2014; Gegenwärtig<lb/>
leben wir in einer Zeit, wo der Standpunkt der Naturgesetze vorherrscht.<lb/>
Da die Wissenschaft augenblicklich nicht centralisirt ist. wie sie es bald<lb/>
sein wird, so sehen Viele nur die Gesetze und vergessen die liebende Ursache,<lb/>
indem sie sich einbilden, daß die Maschine auch ohne bewegende Kraft (mvtsur<lb/>
gehen könnte. Dies Bergessen hat die traurige religiöse Verdunkelung<lb/>
(eclipss) zur Folge, von der wir umnachtet werden. Sie kann nicht lange<lb/>
dauern. Das schöne Centrallicht, welches die ganze Freude der Welt aus¬<lb/>
macht, wird wieder erscheinen. Wir werden das augenblicklich geschwächte<lb/>
Gefühl für die liebende Ursache wieder gewinnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1565" next="#ID_1566"> Man geht wohl nicht irre, wenn man annimmt, daß Michelet in ge¬<lb/>
wissen Zeiten für sein persönliches geistiges Bedürfniß an den ewigen Ge¬<lb/>
setzen vollkommenes Genüge gefunden und daß die Annahme einer liebenden<lb/>
Ursache in solchen Augenblicken weder eine Forderung des Verstandes noch des<lb/>
Herzens für ihn war. In Naturstudien vertieft, war er nur bemüht, die<lb/>
nächsten Ursachen der Erscheinungen, die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze<lb/>
zu erkennen; die erste Ursache lag außerhalb des Kreises seiner Forschung;<lb/>
als metaphysisches Problem nahm sie in einer Zeit, wo er auch die Geheim¬<lb/>
nisse der seelischen und geistigen Natur des Menschen mit dem anatomischen<lb/>
Secirmesser zu ergründen suchte, seine Aufmerksamkeit wenig in Anspruch.<lb/>
So wie er sich aber von seinen wissenschaftlichen Studien erholt, empfindet<lb/>
sein Gemüth das Bedürfniß, an dem Urquell alles Daseins sich zu laben;<lb/>
aber die Zeit, als deren Kind er sich in vollstem Maße fühlt, hindert ihn.<lb/>
Sie ist erregt, thätig bis zur Ueberspannung aller Nerven; aber sie ist zer¬<lb/>
streut, zerfahren, es fehlt ihr der Mittelpunkt. Und doch strebt sie nach der<lb/>
Einheit. Auch die Wissenschaft will sich centralistren. Ist sie dahin gelangt,<lb/>
dann wird auch das Gottesbewußtsein wieder in sein Recht treten. Es<lb/>
leuchtet &#x2014; und das ist wieder ein echt französischer Zug &#x2014; aus seinen Re¬<lb/>
flexionen unverkennbar hervor &#x2014; daß er mit vollkommen klarem Bewußtsein<lb/>
in seinen religiösen Vorstellungen ganz von der öffentlichen Meinung der ge¬<lb/>
bildeten, antiklerikalen Kreise abhängig ist; um für sich eine Entscheidung<lb/>
zu treffen, wartet er. bis die Wissenschaft so weit &#x201E;centralisirt" ist, um die<lb/>
Entscheidung zu treffen, die ihm offenbar die erwünschteste wäre. Solchen<lb/>
Zügen der Abhängigkeit begegnen wir auch in andern Dingen oft genug,<lb/>
selvst da, wo er muthig gegen Vorurtheile ankämpft und seinen Landsleuten<lb/>
die derbsten Wahrheiten sagt. Die französische Demokratie ist eine harte und<lb/>
unduldsame Tyrannin der Geister: sie will nicht nur den Willen, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] Mensch von Gott hat. Diese beiden Säulen des Tempels sind so fest ge¬ gründet, daß Niemand sie angreifen kann. Die Welt wechselt jedoch. Bald sucht sie nur die Gesetze, bald nur die Ursache. Sie schwankt beständig zwischen diesen religiösen Polen, aber sie ändert sie nicht. — Gegenwärtig leben wir in einer Zeit, wo der Standpunkt der Naturgesetze vorherrscht. Da die Wissenschaft augenblicklich nicht centralisirt ist. wie sie es bald sein wird, so sehen Viele nur die Gesetze und vergessen die liebende Ursache, indem sie sich einbilden, daß die Maschine auch ohne bewegende Kraft (mvtsur gehen könnte. Dies Bergessen hat die traurige religiöse Verdunkelung (eclipss) zur Folge, von der wir umnachtet werden. Sie kann nicht lange dauern. Das schöne Centrallicht, welches die ganze Freude der Welt aus¬ macht, wird wieder erscheinen. Wir werden das augenblicklich geschwächte Gefühl für die liebende Ursache wieder gewinnen. Man geht wohl nicht irre, wenn man annimmt, daß Michelet in ge¬ wissen Zeiten für sein persönliches geistiges Bedürfniß an den ewigen Ge¬ setzen vollkommenes Genüge gefunden und daß die Annahme einer liebenden Ursache in solchen Augenblicken weder eine Forderung des Verstandes noch des Herzens für ihn war. In Naturstudien vertieft, war er nur bemüht, die nächsten Ursachen der Erscheinungen, die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze zu erkennen; die erste Ursache lag außerhalb des Kreises seiner Forschung; als metaphysisches Problem nahm sie in einer Zeit, wo er auch die Geheim¬ nisse der seelischen und geistigen Natur des Menschen mit dem anatomischen Secirmesser zu ergründen suchte, seine Aufmerksamkeit wenig in Anspruch. So wie er sich aber von seinen wissenschaftlichen Studien erholt, empfindet sein Gemüth das Bedürfniß, an dem Urquell alles Daseins sich zu laben; aber die Zeit, als deren Kind er sich in vollstem Maße fühlt, hindert ihn. Sie ist erregt, thätig bis zur Ueberspannung aller Nerven; aber sie ist zer¬ streut, zerfahren, es fehlt ihr der Mittelpunkt. Und doch strebt sie nach der Einheit. Auch die Wissenschaft will sich centralistren. Ist sie dahin gelangt, dann wird auch das Gottesbewußtsein wieder in sein Recht treten. Es leuchtet — und das ist wieder ein echt französischer Zug — aus seinen Re¬ flexionen unverkennbar hervor — daß er mit vollkommen klarem Bewußtsein in seinen religiösen Vorstellungen ganz von der öffentlichen Meinung der ge¬ bildeten, antiklerikalen Kreise abhängig ist; um für sich eine Entscheidung zu treffen, wartet er. bis die Wissenschaft so weit „centralisirt" ist, um die Entscheidung zu treffen, die ihm offenbar die erwünschteste wäre. Solchen Zügen der Abhängigkeit begegnen wir auch in andern Dingen oft genug, selvst da, wo er muthig gegen Vorurtheile ankämpft und seinen Landsleuten die derbsten Wahrheiten sagt. Die französische Demokratie ist eine harte und unduldsame Tyrannin der Geister: sie will nicht nur den Willen, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/460>, abgerufen am 22.07.2024.