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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Phantasie fortgerissen, daß ihm selbst ganz unbestreitbar alle die über- und
widernatürlichen Vorgänge, die er mit glühenden Farben ausmalt, im
Augenblick, wo er sie niederschreibe, zur Wirklichkeit werden. Die Zauberin
vertritt das Naturprincip im Gegensatz zur Kirchenlehre und den auf sie be¬
gründeten gesellschaftlichen Zuständen. Aber die Natur wirkt auf sie, um
durch sie zu wirken, mit übernatürlichen, dämonischen Kräften. Die
Besitzergreifung durch den Dämon erscheint in seiner Darstellung nicht als
ein symbolisches Ereigniß, auch nicht als Produkt der Einbildungskraft der
Besessenen, sondern als wirklicher thatsächlicher Vorgang. Den ganzen ersten
Theil der Schrift durchweht ein wilder mystischer Geist, von dem im zweiten
Theil, der die Hexenprocesse der neueren Zeit zum Gegenstande hat und sich
mit einer oft abstoßenden Ausführlichkeit in der Schilderung der widrigsten
Einzelheiten ergeht, allerdings keine Spur zu finden ist.

Auch diese Schrift beweist, daß Michelet's Feindschaft gegen das positive
Christenthum keineswegs aus einer atheistischen Weltanschauung hervorgeht.
Das Christenthum stößt ihn, von den Gelegenheitsursachen abgesehen, ab,
weil es nach seiner Ansicht den freien Willen des Individuums nicht zu
seinem Rechte kommen läßt, wobei es ihn wenig stört, daß auch nach seiner
Weltanschauung der Einzelne doch nur das Werkzeug unwiderstehlicher
Mächte ist. Indessen wie scharf er auch Kirche und Dogma bekämpft, der
Glaube an Gott ist seiner, wie schon bemerkt, tief religiösen Natur Be¬
dürfniß. Hin und wieder freilich läßt er sich an den Naturgesetzen genügen,
und seine naturwissenschaftlichen Neigungen machen ihn zu einer rein materia¬
listischen Betrachtungsweise geneigt. Am Secirtisch löst sich ihm die Seele
in ein System körperlicher Funktionen auf; in der Natur sieht er die Gesetze
und hält es für überflüssig, nach dem Urquell des Daseins zu fragen. Aber diese
ganze Anschauungsweise ist ihm im Grunde höchst unbehaglich, und es dauert
nicht lange, so kommt die ideale Seite seiner Individualität wieder zur
Geltung, unterstützt durch das Bestreben, die Mannichfaltigkeit der Er'
scheinungen unter einen Begriff zu subsumiren; gerade wie in der Politik
das Einheitsprincip schließlich in ihm stets alle Regungen des Individualis¬
mus aus dem Felde schlägt. Gott ist ihm -- ob als Person oder als der
Weltgeist zu denken, darüber schwankte sein Urtheil durchaus -- die liebende
Ursache, der Vater der Natur, der sie vom Guten zum Besseren leitet. So
erkennt ihn besonders die Frau, während der Mann das Unendliche durch
die unveränderlichen Gesetze der Welt empfindet, die gleichsam die Formen
Gottes sind. Beide Gesichtspunkte vereinigen sich darin, daß der Gott der
Frau, die Liebe, nicht Liebe wäre, wenn er nicht die Liebe für Alle wäre,
jeder Laune und willkürlichen Regung unfähig; wenn er nicht nach dem
Gesetze der Vernunft und Gerechtigkeit liebte d. h. nach der Idee, die der


Phantasie fortgerissen, daß ihm selbst ganz unbestreitbar alle die über- und
widernatürlichen Vorgänge, die er mit glühenden Farben ausmalt, im
Augenblick, wo er sie niederschreibe, zur Wirklichkeit werden. Die Zauberin
vertritt das Naturprincip im Gegensatz zur Kirchenlehre und den auf sie be¬
gründeten gesellschaftlichen Zuständen. Aber die Natur wirkt auf sie, um
durch sie zu wirken, mit übernatürlichen, dämonischen Kräften. Die
Besitzergreifung durch den Dämon erscheint in seiner Darstellung nicht als
ein symbolisches Ereigniß, auch nicht als Produkt der Einbildungskraft der
Besessenen, sondern als wirklicher thatsächlicher Vorgang. Den ganzen ersten
Theil der Schrift durchweht ein wilder mystischer Geist, von dem im zweiten
Theil, der die Hexenprocesse der neueren Zeit zum Gegenstande hat und sich
mit einer oft abstoßenden Ausführlichkeit in der Schilderung der widrigsten
Einzelheiten ergeht, allerdings keine Spur zu finden ist.

Auch diese Schrift beweist, daß Michelet's Feindschaft gegen das positive
Christenthum keineswegs aus einer atheistischen Weltanschauung hervorgeht.
Das Christenthum stößt ihn, von den Gelegenheitsursachen abgesehen, ab,
weil es nach seiner Ansicht den freien Willen des Individuums nicht zu
seinem Rechte kommen läßt, wobei es ihn wenig stört, daß auch nach seiner
Weltanschauung der Einzelne doch nur das Werkzeug unwiderstehlicher
Mächte ist. Indessen wie scharf er auch Kirche und Dogma bekämpft, der
Glaube an Gott ist seiner, wie schon bemerkt, tief religiösen Natur Be¬
dürfniß. Hin und wieder freilich läßt er sich an den Naturgesetzen genügen,
und seine naturwissenschaftlichen Neigungen machen ihn zu einer rein materia¬
listischen Betrachtungsweise geneigt. Am Secirtisch löst sich ihm die Seele
in ein System körperlicher Funktionen auf; in der Natur sieht er die Gesetze
und hält es für überflüssig, nach dem Urquell des Daseins zu fragen. Aber diese
ganze Anschauungsweise ist ihm im Grunde höchst unbehaglich, und es dauert
nicht lange, so kommt die ideale Seite seiner Individualität wieder zur
Geltung, unterstützt durch das Bestreben, die Mannichfaltigkeit der Er'
scheinungen unter einen Begriff zu subsumiren; gerade wie in der Politik
das Einheitsprincip schließlich in ihm stets alle Regungen des Individualis¬
mus aus dem Felde schlägt. Gott ist ihm — ob als Person oder als der
Weltgeist zu denken, darüber schwankte sein Urtheil durchaus — die liebende
Ursache, der Vater der Natur, der sie vom Guten zum Besseren leitet. So
erkennt ihn besonders die Frau, während der Mann das Unendliche durch
die unveränderlichen Gesetze der Welt empfindet, die gleichsam die Formen
Gottes sind. Beide Gesichtspunkte vereinigen sich darin, daß der Gott der
Frau, die Liebe, nicht Liebe wäre, wenn er nicht die Liebe für Alle wäre,
jeder Laune und willkürlichen Regung unfähig; wenn er nicht nach dem
Gesetze der Vernunft und Gerechtigkeit liebte d. h. nach der Idee, die der


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[0459] Phantasie fortgerissen, daß ihm selbst ganz unbestreitbar alle die über- und widernatürlichen Vorgänge, die er mit glühenden Farben ausmalt, im Augenblick, wo er sie niederschreibe, zur Wirklichkeit werden. Die Zauberin vertritt das Naturprincip im Gegensatz zur Kirchenlehre und den auf sie be¬ gründeten gesellschaftlichen Zuständen. Aber die Natur wirkt auf sie, um durch sie zu wirken, mit übernatürlichen, dämonischen Kräften. Die Besitzergreifung durch den Dämon erscheint in seiner Darstellung nicht als ein symbolisches Ereigniß, auch nicht als Produkt der Einbildungskraft der Besessenen, sondern als wirklicher thatsächlicher Vorgang. Den ganzen ersten Theil der Schrift durchweht ein wilder mystischer Geist, von dem im zweiten Theil, der die Hexenprocesse der neueren Zeit zum Gegenstande hat und sich mit einer oft abstoßenden Ausführlichkeit in der Schilderung der widrigsten Einzelheiten ergeht, allerdings keine Spur zu finden ist. Auch diese Schrift beweist, daß Michelet's Feindschaft gegen das positive Christenthum keineswegs aus einer atheistischen Weltanschauung hervorgeht. Das Christenthum stößt ihn, von den Gelegenheitsursachen abgesehen, ab, weil es nach seiner Ansicht den freien Willen des Individuums nicht zu seinem Rechte kommen läßt, wobei es ihn wenig stört, daß auch nach seiner Weltanschauung der Einzelne doch nur das Werkzeug unwiderstehlicher Mächte ist. Indessen wie scharf er auch Kirche und Dogma bekämpft, der Glaube an Gott ist seiner, wie schon bemerkt, tief religiösen Natur Be¬ dürfniß. Hin und wieder freilich läßt er sich an den Naturgesetzen genügen, und seine naturwissenschaftlichen Neigungen machen ihn zu einer rein materia¬ listischen Betrachtungsweise geneigt. Am Secirtisch löst sich ihm die Seele in ein System körperlicher Funktionen auf; in der Natur sieht er die Gesetze und hält es für überflüssig, nach dem Urquell des Daseins zu fragen. Aber diese ganze Anschauungsweise ist ihm im Grunde höchst unbehaglich, und es dauert nicht lange, so kommt die ideale Seite seiner Individualität wieder zur Geltung, unterstützt durch das Bestreben, die Mannichfaltigkeit der Er' scheinungen unter einen Begriff zu subsumiren; gerade wie in der Politik das Einheitsprincip schließlich in ihm stets alle Regungen des Individualis¬ mus aus dem Felde schlägt. Gott ist ihm — ob als Person oder als der Weltgeist zu denken, darüber schwankte sein Urtheil durchaus — die liebende Ursache, der Vater der Natur, der sie vom Guten zum Besseren leitet. So erkennt ihn besonders die Frau, während der Mann das Unendliche durch die unveränderlichen Gesetze der Welt empfindet, die gleichsam die Formen Gottes sind. Beide Gesichtspunkte vereinigen sich darin, daß der Gott der Frau, die Liebe, nicht Liebe wäre, wenn er nicht die Liebe für Alle wäre, jeder Laune und willkürlichen Regung unfähig; wenn er nicht nach dem Gesetze der Vernunft und Gerechtigkeit liebte d. h. nach der Idee, die der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/459>, abgerufen am 22.07.2024.