Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

auch das Denken und Empfinden der Individuen beherrschen; wer ihr ange¬
hören^ will, muß seine Grundsätze und Ideen dem "System" unterwerfen,
und dieserlNothwendigkeit vermag sich auch Micheler nicht zu entziehen. Daß
dieMGebundenheit auch den Geschichtsforscher bisweilen eingeschränkt hat,
wird sich bei einem Blick auf seine großen historischen Arbeiten ergeben.


Georg Zelle.


Lin Zeitgenosse über das hussitische Böhmen des
15. Jahrhunderts.

Wer jetzt etwa von Sachsen her die Grenzen Böhmens überschreitet, dem
kommt, auch wenn er zunächst in einer völlig deutschen Landschaft sich zu be¬
finden glaubt, doch sofort die Wahrnehmung entgegen, daß er ein zwei¬
sprachiges Land betreten hat. Auf den Bahnhöfen steht neben dem deutschen
"Ausgang" das tschechische "Vyboch", neben "Wartesaal" "Tschekarna"; die
Formulare der Telegramme enthalten deutschen und tschechischen Text und
namentlich Beamte kann man oft in slavischer Zunge conversiren hören.
Aber nicht Jeder denkt daran, daß er sich gerade in Böhmen auf dem Boden
grimmiger Racenkämpfe befindet. Noch jetzt steht das Reich der Wenzels¬
krone unter den Ländern, in denen der Deutsche dem Slaven begegnet, obenan;
hier ist das slavische Nationalgefühl am ausgebildetsten, die Feindschaft gegen
den Deutschen am schroffsten, die Organisation der "nationalen" Parteien
am straffster und die Offensive gegen das eingewanderte Deutschthum hat
immerhin einige Erfolge aufzuweisen. Auf diese ganze Bewegung aber ist
das Vorbild der Hussitenzeit von größtem Einfluß gewesen, der wilden Zeit,
welche der grimmigste Deutschenfeind und allerdings auch größte Geschichts¬
schreiber Böhmens, Franz Palacky "den Höhepunkt der böhmischen Geschichte"
nennt. Wir wissen jetzt längst, daß Johannes Huß nicht bloß ein Reformator,
sondern vor allem ein fanatischer Tscheche war, der Todfeind unseres Volkes.
In Consequenz seines berufenen Wortes: "das Brod, welches den Söhnen
(d. h. den Tschechen) gehöre, würde den Hunden gegeben (d. h. den Deutschen);
die Söhne des Reiches hätten sich an die Tafel zu setzen, die Fremden aber
demüthig die Brosamen zu erwarten" begannen seine Landsleute, von National¬
haß, Religionsfanatismus und roher Habsucht getrieben, jene entsetzliche
Reaktion gegen das blühende Deutschthum der böhmischen Städte, welche diese


auch das Denken und Empfinden der Individuen beherrschen; wer ihr ange¬
hören^ will, muß seine Grundsätze und Ideen dem „System" unterwerfen,
und dieserlNothwendigkeit vermag sich auch Micheler nicht zu entziehen. Daß
dieMGebundenheit auch den Geschichtsforscher bisweilen eingeschränkt hat,
wird sich bei einem Blick auf seine großen historischen Arbeiten ergeben.


Georg Zelle.


Lin Zeitgenosse über das hussitische Böhmen des
15. Jahrhunderts.

Wer jetzt etwa von Sachsen her die Grenzen Böhmens überschreitet, dem
kommt, auch wenn er zunächst in einer völlig deutschen Landschaft sich zu be¬
finden glaubt, doch sofort die Wahrnehmung entgegen, daß er ein zwei¬
sprachiges Land betreten hat. Auf den Bahnhöfen steht neben dem deutschen
„Ausgang" das tschechische „Vyboch", neben „Wartesaal" „Tschekarna"; die
Formulare der Telegramme enthalten deutschen und tschechischen Text und
namentlich Beamte kann man oft in slavischer Zunge conversiren hören.
Aber nicht Jeder denkt daran, daß er sich gerade in Böhmen auf dem Boden
grimmiger Racenkämpfe befindet. Noch jetzt steht das Reich der Wenzels¬
krone unter den Ländern, in denen der Deutsche dem Slaven begegnet, obenan;
hier ist das slavische Nationalgefühl am ausgebildetsten, die Feindschaft gegen
den Deutschen am schroffsten, die Organisation der „nationalen" Parteien
am straffster und die Offensive gegen das eingewanderte Deutschthum hat
immerhin einige Erfolge aufzuweisen. Auf diese ganze Bewegung aber ist
das Vorbild der Hussitenzeit von größtem Einfluß gewesen, der wilden Zeit,
welche der grimmigste Deutschenfeind und allerdings auch größte Geschichts¬
schreiber Böhmens, Franz Palacky „den Höhepunkt der böhmischen Geschichte"
nennt. Wir wissen jetzt längst, daß Johannes Huß nicht bloß ein Reformator,
sondern vor allem ein fanatischer Tscheche war, der Todfeind unseres Volkes.
In Consequenz seines berufenen Wortes: „das Brod, welches den Söhnen
(d. h. den Tschechen) gehöre, würde den Hunden gegeben (d. h. den Deutschen);
die Söhne des Reiches hätten sich an die Tafel zu setzen, die Fremden aber
demüthig die Brosamen zu erwarten" begannen seine Landsleute, von National¬
haß, Religionsfanatismus und roher Habsucht getrieben, jene entsetzliche
Reaktion gegen das blühende Deutschthum der böhmischen Städte, welche diese


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132155"/>
          <p xml:id="ID_1566" prev="#ID_1565"> auch das Denken und Empfinden der Individuen beherrschen; wer ihr ange¬<lb/>
hören^ will, muß seine Grundsätze und Ideen dem &#x201E;System" unterwerfen,<lb/>
und dieserlNothwendigkeit vermag sich auch Micheler nicht zu entziehen. Daß<lb/>
dieMGebundenheit auch den Geschichtsforscher bisweilen eingeschränkt hat,<lb/>
wird sich bei einem Blick auf seine großen historischen Arbeiten ergeben.</p><lb/>
          <note type="byline"> Georg Zelle.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Lin Zeitgenosse über das hussitische Böhmen des<lb/>
15. Jahrhunderts.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1567" next="#ID_1568"> Wer jetzt etwa von Sachsen her die Grenzen Böhmens überschreitet, dem<lb/>
kommt, auch wenn er zunächst in einer völlig deutschen Landschaft sich zu be¬<lb/>
finden glaubt, doch sofort die Wahrnehmung entgegen, daß er ein zwei¬<lb/>
sprachiges Land betreten hat. Auf den Bahnhöfen steht neben dem deutschen<lb/>
&#x201E;Ausgang" das tschechische &#x201E;Vyboch", neben &#x201E;Wartesaal" &#x201E;Tschekarna"; die<lb/>
Formulare der Telegramme enthalten deutschen und tschechischen Text und<lb/>
namentlich Beamte kann man oft in slavischer Zunge conversiren hören.<lb/>
Aber nicht Jeder denkt daran, daß er sich gerade in Böhmen auf dem Boden<lb/>
grimmiger Racenkämpfe befindet. Noch jetzt steht das Reich der Wenzels¬<lb/>
krone unter den Ländern, in denen der Deutsche dem Slaven begegnet, obenan;<lb/>
hier ist das slavische Nationalgefühl am ausgebildetsten, die Feindschaft gegen<lb/>
den Deutschen am schroffsten, die Organisation der &#x201E;nationalen" Parteien<lb/>
am straffster und die Offensive gegen das eingewanderte Deutschthum hat<lb/>
immerhin einige Erfolge aufzuweisen. Auf diese ganze Bewegung aber ist<lb/>
das Vorbild der Hussitenzeit von größtem Einfluß gewesen, der wilden Zeit,<lb/>
welche der grimmigste Deutschenfeind und allerdings auch größte Geschichts¬<lb/>
schreiber Böhmens, Franz Palacky &#x201E;den Höhepunkt der böhmischen Geschichte"<lb/>
nennt. Wir wissen jetzt längst, daß Johannes Huß nicht bloß ein Reformator,<lb/>
sondern vor allem ein fanatischer Tscheche war, der Todfeind unseres Volkes.<lb/>
In Consequenz seines berufenen Wortes: &#x201E;das Brod, welches den Söhnen<lb/>
(d. h. den Tschechen) gehöre, würde den Hunden gegeben (d. h. den Deutschen);<lb/>
die Söhne des Reiches hätten sich an die Tafel zu setzen, die Fremden aber<lb/>
demüthig die Brosamen zu erwarten" begannen seine Landsleute, von National¬<lb/>
haß, Religionsfanatismus und roher Habsucht getrieben, jene entsetzliche<lb/>
Reaktion gegen das blühende Deutschthum der böhmischen Städte, welche diese</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] auch das Denken und Empfinden der Individuen beherrschen; wer ihr ange¬ hören^ will, muß seine Grundsätze und Ideen dem „System" unterwerfen, und dieserlNothwendigkeit vermag sich auch Micheler nicht zu entziehen. Daß dieMGebundenheit auch den Geschichtsforscher bisweilen eingeschränkt hat, wird sich bei einem Blick auf seine großen historischen Arbeiten ergeben. Georg Zelle. Lin Zeitgenosse über das hussitische Böhmen des 15. Jahrhunderts. Wer jetzt etwa von Sachsen her die Grenzen Böhmens überschreitet, dem kommt, auch wenn er zunächst in einer völlig deutschen Landschaft sich zu be¬ finden glaubt, doch sofort die Wahrnehmung entgegen, daß er ein zwei¬ sprachiges Land betreten hat. Auf den Bahnhöfen steht neben dem deutschen „Ausgang" das tschechische „Vyboch", neben „Wartesaal" „Tschekarna"; die Formulare der Telegramme enthalten deutschen und tschechischen Text und namentlich Beamte kann man oft in slavischer Zunge conversiren hören. Aber nicht Jeder denkt daran, daß er sich gerade in Böhmen auf dem Boden grimmiger Racenkämpfe befindet. Noch jetzt steht das Reich der Wenzels¬ krone unter den Ländern, in denen der Deutsche dem Slaven begegnet, obenan; hier ist das slavische Nationalgefühl am ausgebildetsten, die Feindschaft gegen den Deutschen am schroffsten, die Organisation der „nationalen" Parteien am straffster und die Offensive gegen das eingewanderte Deutschthum hat immerhin einige Erfolge aufzuweisen. Auf diese ganze Bewegung aber ist das Vorbild der Hussitenzeit von größtem Einfluß gewesen, der wilden Zeit, welche der grimmigste Deutschenfeind und allerdings auch größte Geschichts¬ schreiber Böhmens, Franz Palacky „den Höhepunkt der böhmischen Geschichte" nennt. Wir wissen jetzt längst, daß Johannes Huß nicht bloß ein Reformator, sondern vor allem ein fanatischer Tscheche war, der Todfeind unseres Volkes. In Consequenz seines berufenen Wortes: „das Brod, welches den Söhnen (d. h. den Tschechen) gehöre, würde den Hunden gegeben (d. h. den Deutschen); die Söhne des Reiches hätten sich an die Tafel zu setzen, die Fremden aber demüthig die Brosamen zu erwarten" begannen seine Landsleute, von National¬ haß, Religionsfanatismus und roher Habsucht getrieben, jene entsetzliche Reaktion gegen das blühende Deutschthum der böhmischen Städte, welche diese

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/461>, abgerufen am 22.07.2024.