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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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enger Zusammenhang besteht; denn es ist ja wohl einleuchtend, daß das Recht
(im objektiven Sinn) sich anders entwickeln wird, wenn die Rechtspflege aus¬
schließlich in den Händen von rechtsgelehrten Beamten ruht, anders, wenn
sie von der versammelten Volksgemeinde geübt wird, und daß das materielle
Recht (im subjektiven Sinn, das Recht des Einzelnen) verschiedene Aussichten
aus Verwirklichung hat, je nachdem der Rechtsstreit in den elastischen Formen
des öffentlich-mündlichen Verfahrens oder nach den Bestimmungen des "ge¬
meinen römischen Rechts" geführt wird, wo der "summarische Besitzstreit, das
sogenannte xosskSLorium summarüssimum Jahre oder gar Jahrzehnte dauern
konnte; und umgekehrt wirkt die Beschaffenheit des materiellen Rechts vielfach
auf das Gerichtsverfahren und die Gerichtsverfassung ein; wenn die Gesetze,
welche das erstere feststellen, in einer fremden, todten Sprache geschrieben
sind, so ist jede Mitwirkung von Nicht ern aus dem Volk bei der Recht¬
sprechung ausgeschlossen, und für das lebendige öffentlich mündliche Ver¬
fahren ist da offenbar kein Raum; auf der andern Seite aber wird ein Volk,
welches im Besitz seines eigenen Rechtes, und dessen Leben im Uebrigen gesund
ist, sich niemals bei einem heimlich-schriftlichen Verfahren beruhigen und in
mehr oder weniger großem Umfang selbstthätige Mitwirkung bei der Recht¬
sprechung beanspruchen. Wie das materielle Recht mit dem Gerichtsverfahren
und der Gerichtsverfassung, so und noch mehr hängen diese beiden unter sich
zusammen; es sei nur an die Rechtsmittel und den Instanzenzug erinnert;
die Zahl und die Zusammensetzung der Gerichte höherer Instanz hat das
Gerichtsverfassungsgesetz zu bestimmen; ob und in welchem Umfang
Gerichte höherer Instanz nothwendig seien, hängt wesentlich von der Ein¬
richtung des Verfahrens, daneben aber auch von der Zusammensetzung
der Gerichte erster Instanz ab; mit dem öffentlich-mündlichen Verfahren ist
z. B. das alte "Recht der drei Instanzen" völlig unvereinbar; aber trotz des
öffentlich mündlichen Verfahrens trägt man in Deutschland überall Bedenken,
die Vortheile von Einzelrichtern der Anfechtung durch Berufung zu ent¬
ziehen. Eben weil der Zusammenhang zwischen Recht, Proceß und Gerichts¬
verfassung in der Natur der Dinge begründet ist, kann er nie auf die Dauer
übersehen werden; viel häusiger kommt es vor, daß über dem Zusammenhang
der Unterschied außer Acht gelassen wird, daß für einen Mangel, welcher
im Proeeßgesetz oder im materiellen Recht seinen Grund hat, die
Gerichtsverfassung verantwortlich gemacht wird und umgekehrt, oder daß
ein Vorzug des Verfahrens der zufällig bestehenden, etwa gleichzeitig mit
jenem ausgeführten Gerichtsverfassung zum Verdienst angerechnet wird.
Daß z. B. das öffentlich-mündliche Anklageversahren eine viel bessere Gewähr
für gerechte Strasurtheile biete, als der geheime schriftliche Jnquisitionsproceß,
wird nachgerade kein Sachverständiger mehr in Abrede ziehen; nun wurde in


enger Zusammenhang besteht; denn es ist ja wohl einleuchtend, daß das Recht
(im objektiven Sinn) sich anders entwickeln wird, wenn die Rechtspflege aus¬
schließlich in den Händen von rechtsgelehrten Beamten ruht, anders, wenn
sie von der versammelten Volksgemeinde geübt wird, und daß das materielle
Recht (im subjektiven Sinn, das Recht des Einzelnen) verschiedene Aussichten
aus Verwirklichung hat, je nachdem der Rechtsstreit in den elastischen Formen
des öffentlich-mündlichen Verfahrens oder nach den Bestimmungen des „ge¬
meinen römischen Rechts" geführt wird, wo der „summarische Besitzstreit, das
sogenannte xosskSLorium summarüssimum Jahre oder gar Jahrzehnte dauern
konnte; und umgekehrt wirkt die Beschaffenheit des materiellen Rechts vielfach
auf das Gerichtsverfahren und die Gerichtsverfassung ein; wenn die Gesetze,
welche das erstere feststellen, in einer fremden, todten Sprache geschrieben
sind, so ist jede Mitwirkung von Nicht ern aus dem Volk bei der Recht¬
sprechung ausgeschlossen, und für das lebendige öffentlich mündliche Ver¬
fahren ist da offenbar kein Raum; auf der andern Seite aber wird ein Volk,
welches im Besitz seines eigenen Rechtes, und dessen Leben im Uebrigen gesund
ist, sich niemals bei einem heimlich-schriftlichen Verfahren beruhigen und in
mehr oder weniger großem Umfang selbstthätige Mitwirkung bei der Recht¬
sprechung beanspruchen. Wie das materielle Recht mit dem Gerichtsverfahren
und der Gerichtsverfassung, so und noch mehr hängen diese beiden unter sich
zusammen; es sei nur an die Rechtsmittel und den Instanzenzug erinnert;
die Zahl und die Zusammensetzung der Gerichte höherer Instanz hat das
Gerichtsverfassungsgesetz zu bestimmen; ob und in welchem Umfang
Gerichte höherer Instanz nothwendig seien, hängt wesentlich von der Ein¬
richtung des Verfahrens, daneben aber auch von der Zusammensetzung
der Gerichte erster Instanz ab; mit dem öffentlich-mündlichen Verfahren ist
z. B. das alte „Recht der drei Instanzen" völlig unvereinbar; aber trotz des
öffentlich mündlichen Verfahrens trägt man in Deutschland überall Bedenken,
die Vortheile von Einzelrichtern der Anfechtung durch Berufung zu ent¬
ziehen. Eben weil der Zusammenhang zwischen Recht, Proceß und Gerichts¬
verfassung in der Natur der Dinge begründet ist, kann er nie auf die Dauer
übersehen werden; viel häusiger kommt es vor, daß über dem Zusammenhang
der Unterschied außer Acht gelassen wird, daß für einen Mangel, welcher
im Proeeßgesetz oder im materiellen Recht seinen Grund hat, die
Gerichtsverfassung verantwortlich gemacht wird und umgekehrt, oder daß
ein Vorzug des Verfahrens der zufällig bestehenden, etwa gleichzeitig mit
jenem ausgeführten Gerichtsverfassung zum Verdienst angerechnet wird.
Daß z. B. das öffentlich-mündliche Anklageversahren eine viel bessere Gewähr
für gerechte Strasurtheile biete, als der geheime schriftliche Jnquisitionsproceß,
wird nachgerade kein Sachverständiger mehr in Abrede ziehen; nun wurde in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/410>, abgerufen am 24.08.2024.