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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Werke Reuter's -- z. B. auch in "Dorchläuchting" -- in der vollendeten
Kunst des Dichters, und das ideale Gegenbild der verkehrten Wirklichkeit
gerade dadurch besonders nahe zu führen, daß die Wirklichkeit in ihren
kleinsten Details mit einer gradezu lächerlichen Greifbarkeit und Deutlichkeit
vorgestellt wird. Das ideale Gegenbild jener Mikrokosmen aber, deren
Schilderung Reuter scheinbar seinen ganzen liebevollen Fleiß und sein größtes
Behagen zuwendet, ist eben nichts anderes als die nationale Idee. Aus der
ganzen "Festungstid", im Roman, wie in der häßlichen Wirklichkeit jener un¬
seligen Tage der "Demagogenriecherei" erhebt sich von selbst auf jedem Blatte,
an jedem Tage der ganzen Epoche, die schmerzerfüllte Frage: was hatten
diese Jünglinge andres verbrochen, als daß sie ihr Vaterland zu lieb hatten?
Daß sie den Traum der Einheit und Freiheit Deutschlands, für welchen die
deutsche Jugend in den Freiheitskriegen geblutet, wachend weiter träumten,
als die deutschen Dynasten seiner längst vergessen hatten? Man kann den
furchtbaren Druck jener Tage, die heiße Sehnsucht nach tiefgreifender Wandlung,
die in allen edeln Naturen sich regte, so daß jedes Opfer im Dienste der
nationalen Sache gering erschien, nicht ergreifender ausdrücken, als Reuter
selbst in dem Bilde am Schlüsse der "Festungstid", wo er, der gereifte Mann
aus dem Kerker tritt, in einem Alter, wo alle Genossen seiner Jugend längst
w Amt und Würden sind, und er zu eigen nichts besitzt als einen "indem"
Hund, den er auffordert, ihm am Scheideweg der Heimath und der Zukunft
den Weg zu zeigen. -- Auch die "Stromtid", unstreitig Reuter's bedeutendste
Schöpfung, ist erfüllt von nationalem Geiste. Jeder wird hier zunächst daran
denken, daß das Jahr 1848, das "tolle", das große Jahr unsrer Väter, eine
so bedeutende Rolle in der "Stromtid" spielt, so entscheidend auch auf den
Tang der Handlung und die Schicksalswendung der Helden einwirkt. Aber
des Dichters wahre patriotische Meinung ist durch die Einführung und den
Verlauf der großen deutschen Erhebung im Jahre 1848 doch nicht dargelegt.
Sonst müßte die Idee jenes Jahres, die Einheit durch die Volkssouveränität,
im Stande sein, auch alle Conflicte des Romans zu lösen und das befriedete
Ende der Erzählung herbeiführen. Das ist aber so wenig der Fall, daß
Reuter im Gegentheil vorzugsweise die komischen Seiten des tollen Jahres
W der "Stromtid" schildert, namentlich die unendliche Komik der damaligen
.-Bolksredner" gewöhnlichen Schlages, die mit ebenso großer Grandezza als
Plattheit und politischer Unreife die Verwaltung der höchsten Güter Europas
antraten. Das Debüt Unkel Bräsig's auf diesem Gebiete über das Thema:
--die allgemeine Armuth kommt von der allgemeinen Poverte'" darf hierfür als
Mustergültiges Paradigma gelten. Die wahre Tendenz des Romans in po¬
litischer Hinsicht ist vielmehr unzweifelhaft darin zu suchen, daß Reuter die
Helden seiner "Stromtid" nicht verkümmern läßt bei dem Niedergang aller


Werke Reuter's — z. B. auch in „Dorchläuchting" — in der vollendeten
Kunst des Dichters, und das ideale Gegenbild der verkehrten Wirklichkeit
gerade dadurch besonders nahe zu führen, daß die Wirklichkeit in ihren
kleinsten Details mit einer gradezu lächerlichen Greifbarkeit und Deutlichkeit
vorgestellt wird. Das ideale Gegenbild jener Mikrokosmen aber, deren
Schilderung Reuter scheinbar seinen ganzen liebevollen Fleiß und sein größtes
Behagen zuwendet, ist eben nichts anderes als die nationale Idee. Aus der
ganzen „Festungstid", im Roman, wie in der häßlichen Wirklichkeit jener un¬
seligen Tage der „Demagogenriecherei" erhebt sich von selbst auf jedem Blatte,
an jedem Tage der ganzen Epoche, die schmerzerfüllte Frage: was hatten
diese Jünglinge andres verbrochen, als daß sie ihr Vaterland zu lieb hatten?
Daß sie den Traum der Einheit und Freiheit Deutschlands, für welchen die
deutsche Jugend in den Freiheitskriegen geblutet, wachend weiter träumten,
als die deutschen Dynasten seiner längst vergessen hatten? Man kann den
furchtbaren Druck jener Tage, die heiße Sehnsucht nach tiefgreifender Wandlung,
die in allen edeln Naturen sich regte, so daß jedes Opfer im Dienste der
nationalen Sache gering erschien, nicht ergreifender ausdrücken, als Reuter
selbst in dem Bilde am Schlüsse der „Festungstid", wo er, der gereifte Mann
aus dem Kerker tritt, in einem Alter, wo alle Genossen seiner Jugend längst
w Amt und Würden sind, und er zu eigen nichts besitzt als einen „indem"
Hund, den er auffordert, ihm am Scheideweg der Heimath und der Zukunft
den Weg zu zeigen. — Auch die „Stromtid", unstreitig Reuter's bedeutendste
Schöpfung, ist erfüllt von nationalem Geiste. Jeder wird hier zunächst daran
denken, daß das Jahr 1848, das „tolle", das große Jahr unsrer Väter, eine
so bedeutende Rolle in der „Stromtid" spielt, so entscheidend auch auf den
Tang der Handlung und die Schicksalswendung der Helden einwirkt. Aber
des Dichters wahre patriotische Meinung ist durch die Einführung und den
Verlauf der großen deutschen Erhebung im Jahre 1848 doch nicht dargelegt.
Sonst müßte die Idee jenes Jahres, die Einheit durch die Volkssouveränität,
im Stande sein, auch alle Conflicte des Romans zu lösen und das befriedete
Ende der Erzählung herbeiführen. Das ist aber so wenig der Fall, daß
Reuter im Gegentheil vorzugsweise die komischen Seiten des tollen Jahres
W der „Stromtid" schildert, namentlich die unendliche Komik der damaligen
.-Bolksredner" gewöhnlichen Schlages, die mit ebenso großer Grandezza als
Plattheit und politischer Unreife die Verwaltung der höchsten Güter Europas
antraten. Das Debüt Unkel Bräsig's auf diesem Gebiete über das Thema:
--die allgemeine Armuth kommt von der allgemeinen Poverte'" darf hierfür als
Mustergültiges Paradigma gelten. Die wahre Tendenz des Romans in po¬
litischer Hinsicht ist vielmehr unzweifelhaft darin zu suchen, daß Reuter die
Helden seiner „Stromtid" nicht verkümmern läßt bei dem Niedergang aller


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[0163] Werke Reuter's — z. B. auch in „Dorchläuchting" — in der vollendeten Kunst des Dichters, und das ideale Gegenbild der verkehrten Wirklichkeit gerade dadurch besonders nahe zu führen, daß die Wirklichkeit in ihren kleinsten Details mit einer gradezu lächerlichen Greifbarkeit und Deutlichkeit vorgestellt wird. Das ideale Gegenbild jener Mikrokosmen aber, deren Schilderung Reuter scheinbar seinen ganzen liebevollen Fleiß und sein größtes Behagen zuwendet, ist eben nichts anderes als die nationale Idee. Aus der ganzen „Festungstid", im Roman, wie in der häßlichen Wirklichkeit jener un¬ seligen Tage der „Demagogenriecherei" erhebt sich von selbst auf jedem Blatte, an jedem Tage der ganzen Epoche, die schmerzerfüllte Frage: was hatten diese Jünglinge andres verbrochen, als daß sie ihr Vaterland zu lieb hatten? Daß sie den Traum der Einheit und Freiheit Deutschlands, für welchen die deutsche Jugend in den Freiheitskriegen geblutet, wachend weiter träumten, als die deutschen Dynasten seiner längst vergessen hatten? Man kann den furchtbaren Druck jener Tage, die heiße Sehnsucht nach tiefgreifender Wandlung, die in allen edeln Naturen sich regte, so daß jedes Opfer im Dienste der nationalen Sache gering erschien, nicht ergreifender ausdrücken, als Reuter selbst in dem Bilde am Schlüsse der „Festungstid", wo er, der gereifte Mann aus dem Kerker tritt, in einem Alter, wo alle Genossen seiner Jugend längst w Amt und Würden sind, und er zu eigen nichts besitzt als einen „indem" Hund, den er auffordert, ihm am Scheideweg der Heimath und der Zukunft den Weg zu zeigen. — Auch die „Stromtid", unstreitig Reuter's bedeutendste Schöpfung, ist erfüllt von nationalem Geiste. Jeder wird hier zunächst daran denken, daß das Jahr 1848, das „tolle", das große Jahr unsrer Väter, eine so bedeutende Rolle in der „Stromtid" spielt, so entscheidend auch auf den Tang der Handlung und die Schicksalswendung der Helden einwirkt. Aber des Dichters wahre patriotische Meinung ist durch die Einführung und den Verlauf der großen deutschen Erhebung im Jahre 1848 doch nicht dargelegt. Sonst müßte die Idee jenes Jahres, die Einheit durch die Volkssouveränität, im Stande sein, auch alle Conflicte des Romans zu lösen und das befriedete Ende der Erzählung herbeiführen. Das ist aber so wenig der Fall, daß Reuter im Gegentheil vorzugsweise die komischen Seiten des tollen Jahres W der „Stromtid" schildert, namentlich die unendliche Komik der damaligen .-Bolksredner" gewöhnlichen Schlages, die mit ebenso großer Grandezza als Plattheit und politischer Unreife die Verwaltung der höchsten Güter Europas antraten. Das Debüt Unkel Bräsig's auf diesem Gebiete über das Thema: --die allgemeine Armuth kommt von der allgemeinen Poverte'" darf hierfür als Mustergültiges Paradigma gelten. Die wahre Tendenz des Romans in po¬ litischer Hinsicht ist vielmehr unzweifelhaft darin zu suchen, daß Reuter die Helden seiner „Stromtid" nicht verkümmern läßt bei dem Niedergang aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/163>, abgerufen am 29.06.2024.