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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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kreis herauszutreten vermögen, wenn sie Reisen unternehmen, um Berlin, das
übrige Deutschtand oder noch entlegenere Gegenden aufzusuchen. --

Und trotzalledem ist Fritz Reuter's Dichtung vom edelsten nationalen
Geiste getränkt, von der größten nationalen Bedeutung.

Man kann dieses Lob auf jede seiner Dichtungen anwenden, seine natio-
nale Tendenz bei Allem, was er schrieb, schrittweise, wie es zu Papier und
zum Druck kam, verfolgen. Hier soll, mit Rücksicht auf den Raum, nur an
einigen, auch solchen dem nationalen Gedanken scheinbar entlegensten seiner
Werke, die Richtigkeit dieser Behauptung erwiesen werden.

Es ist zweifellos, daß Fritz Reuter, bei seiner grundbescheidenen, der öf¬
fentlichen Meinung und Kritik gegenüber fast zaghaften Natur, bei den ersten
Werken, die er veröffentlichte, lediglich auf den Beifall seiner engeren Lands¬
leute hoffte. Er mochte diese Hoffnung mit Grund darauf bauen, daß er die
wahrhaft trostlosen socialen und im weiteren Sinne auch politischen Zustände
seiner Heimat durchaus wahrheitsgetreu und deßhalb eben so ergreifend zu
schildern unternommen hatte. Aber wir würden seiner poetischen Anlage und
Gerechtigkeitsliebe Unrecht thun, wenn wir annehmen wollten, daß diese de¬
solate Schilderung, wie sie z. B. in "Kein Hüsung" uns entgegentritt, ihm
Selbstzweck gewesen sei. Die poetische Versöhnung und Gerechtigkeit ist viel¬
mehr darin zu finden, daß Reuter sich über den tiefen Schatten der heimat¬
lichen Gegenwart, die er darstellte, lebendig und mächtig wirkend dachte je¬
nes gewaltige und herrliche Licht der Einheit des ganzen deutschen Vaterlan¬
des, der er in preußischen und mecklenburgischen Kerkern sieben Jahre seines
Lebens zum Opfer gebracht hatte, und die mit einem Male aufräumen
würde mit jenen Thorheiten, gegen die in Mecklenburg allein die Götter
selbst vergebens gekämpft haben würden. Daß diese Hoffnung seiner besten
Jahre ihn nicht betrogen, hat der Abend seines Lebens ihn gelehrt. --

Ebenso verhält es sich mit den Stoffen, mit der Absicht seiner größeren
Romane. Bei der "Franzosentid" ist die patriotische Tendenz mit Händen
zu greifen. Und es ist kein Zufall, daß dieses Werk Reuter's zuerst seinem
Ruhm in ganz Deutschland Bahn brach. Man wird unter den Schriften,
die in volkstümlicher Weise sich auf die Mittheilung der eigenen Erinnerungen
der Verfasser an die Franzosenzeit beschränken, nicht viele finden, die von so
guter deutscher Gesinnung getragen sind, wie Reuter's Buch. Dasselbe gilt von
"Ut mine Festungstid". Es gehörte schon Reuter's Genius dazu, sich überhaupt
an diesen Stoff zu wagen, dem Leser das höchste Interesse abzugewinnen für
einen Gegenstand, der scheinbar nur die Negation aller Abwechslung und
Unterhaltung bietet. Aber in dieser meisterhaften künstlerischen Beherrschung
und Belebung eines scheinbar völlig unpoetischen Stoffes liegt nicht der höchste
Werth dieser Dichtung, sondern dieser besteht hier, wie bei so manchem andern


kreis herauszutreten vermögen, wenn sie Reisen unternehmen, um Berlin, das
übrige Deutschtand oder noch entlegenere Gegenden aufzusuchen. —

Und trotzalledem ist Fritz Reuter's Dichtung vom edelsten nationalen
Geiste getränkt, von der größten nationalen Bedeutung.

Man kann dieses Lob auf jede seiner Dichtungen anwenden, seine natio-
nale Tendenz bei Allem, was er schrieb, schrittweise, wie es zu Papier und
zum Druck kam, verfolgen. Hier soll, mit Rücksicht auf den Raum, nur an
einigen, auch solchen dem nationalen Gedanken scheinbar entlegensten seiner
Werke, die Richtigkeit dieser Behauptung erwiesen werden.

Es ist zweifellos, daß Fritz Reuter, bei seiner grundbescheidenen, der öf¬
fentlichen Meinung und Kritik gegenüber fast zaghaften Natur, bei den ersten
Werken, die er veröffentlichte, lediglich auf den Beifall seiner engeren Lands¬
leute hoffte. Er mochte diese Hoffnung mit Grund darauf bauen, daß er die
wahrhaft trostlosen socialen und im weiteren Sinne auch politischen Zustände
seiner Heimat durchaus wahrheitsgetreu und deßhalb eben so ergreifend zu
schildern unternommen hatte. Aber wir würden seiner poetischen Anlage und
Gerechtigkeitsliebe Unrecht thun, wenn wir annehmen wollten, daß diese de¬
solate Schilderung, wie sie z. B. in „Kein Hüsung" uns entgegentritt, ihm
Selbstzweck gewesen sei. Die poetische Versöhnung und Gerechtigkeit ist viel¬
mehr darin zu finden, daß Reuter sich über den tiefen Schatten der heimat¬
lichen Gegenwart, die er darstellte, lebendig und mächtig wirkend dachte je¬
nes gewaltige und herrliche Licht der Einheit des ganzen deutschen Vaterlan¬
des, der er in preußischen und mecklenburgischen Kerkern sieben Jahre seines
Lebens zum Opfer gebracht hatte, und die mit einem Male aufräumen
würde mit jenen Thorheiten, gegen die in Mecklenburg allein die Götter
selbst vergebens gekämpft haben würden. Daß diese Hoffnung seiner besten
Jahre ihn nicht betrogen, hat der Abend seines Lebens ihn gelehrt. —

Ebenso verhält es sich mit den Stoffen, mit der Absicht seiner größeren
Romane. Bei der „Franzosentid" ist die patriotische Tendenz mit Händen
zu greifen. Und es ist kein Zufall, daß dieses Werk Reuter's zuerst seinem
Ruhm in ganz Deutschland Bahn brach. Man wird unter den Schriften,
die in volkstümlicher Weise sich auf die Mittheilung der eigenen Erinnerungen
der Verfasser an die Franzosenzeit beschränken, nicht viele finden, die von so
guter deutscher Gesinnung getragen sind, wie Reuter's Buch. Dasselbe gilt von
„Ut mine Festungstid". Es gehörte schon Reuter's Genius dazu, sich überhaupt
an diesen Stoff zu wagen, dem Leser das höchste Interesse abzugewinnen für
einen Gegenstand, der scheinbar nur die Negation aller Abwechslung und
Unterhaltung bietet. Aber in dieser meisterhaften künstlerischen Beherrschung
und Belebung eines scheinbar völlig unpoetischen Stoffes liegt nicht der höchste
Werth dieser Dichtung, sondern dieser besteht hier, wie bei so manchem andern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/162>, abgerufen am 01.07.2024.