Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.der Literatur aller Völker und Zeiten ihres Gleichen suchen dürfte, und die Sie werden nie erlöschen, vor Allem weil die Dichtung und der Humor Nichts scheint dieser Annahme mehr zu widersprechen, als der Dialekt ")^Neue Bilder aus dem geistigen Leben, 187S Duncker und Humblot. Grenzboten Hi. 187-1.
der Literatur aller Völker und Zeiten ihres Gleichen suchen dürfte, und die Sie werden nie erlöschen, vor Allem weil die Dichtung und der Humor Nichts scheint dieser Annahme mehr zu widersprechen, als der Dialekt ")^Neue Bilder aus dem geistigen Leben, 187S Duncker und Humblot. Grenzboten Hi. 187-1.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0161" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/131855"/> <p xml:id="ID_609" prev="#ID_608"> der Literatur aller Völker und Zeiten ihres Gleichen suchen dürfte, und die<lb/> um so bedeutendere Wirkung hervorbringen mußte, als der Humor bei Reuter<lb/> hervordrang aus einer in ihrem innersten Grunde ernsten und tiefen Seele.<lb/> Keinem modernen deutschen Schriftsteller ist es so gelungen, wie ihm in<lb/> „Kein Hüsung" und am Anfang der „Stromtid" die ganze Größe des<lb/> menschlichen Elendes und menschlichen Kummers so ergreifend zu schil¬<lb/> dern, in wenigen, scheinbar durchaus realistischen Strichen, die aber die<lb/> innersten Herzenswinkel der Unglücklichen uns bloslegen. Und mit keinem<lb/> Andern als mit ihm können wir mit solchem Behagen andauernd heiter sein,<lb/> und immer von neuem wieder in die heiterste Stimmung gerathen, so oft wir<lb/> seine Dichtungen von neuem lesen. Das sind die Erfolge eines gottbegna¬<lb/> deter Dichters, dessen Name und Nachwirkung in den Herzen unsres Volkes<lb/> nie erlöschen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_610"> Sie werden nie erlöschen, vor Allem weil die Dichtung und der Humor<lb/> Reuter's von einer nationalen Bedeutung sind, die bisher von Allen<lb/> empfunden oder geahnt, von Wenigen mit Bewußtsein erkannt wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_611" next="#ID_612"> Nichts scheint dieser Annahme mehr zu widersprechen, als der Dialekt<lb/> Fritz Reuter's, die Wahl der Stqffe und des Schauplatzes seiner Dichtungen.<lb/> Ueberall scheinbar die engste Grenze des Horizontes, namentlich des politischen,<lb/> bei allen Handelnden Personen. Der Dialekt schon bietet ein gewaltiges Hemm-<lb/> niß für die Erweiterung des Gesichtskreises denjenigen, die auf den Dialekt<lb/> als einzige Form der Mittheilung angewiesen sind. In geistvoller Weise<lb/> hat Julian Schmidt in seiner Abhandlung über Fritz Reuter*) diese Eigen¬<lb/> thümlichkeit der Dialektsprache dargethan. Denn wie eine seit Jahrhunderten<lb/> gewordene, aber auch durch Jahrhunderte unveränderte Insel steht der<lb/> Dialekt inmitten des lebendigen Stroms der Schriftsprache des gesammten<lb/> Volkes. Abgeschlossen für immer in längstvergangenen Tagen, unberührt von<lb/> dem gewaltigen literarischen Schaffen auf dem Boden der allgemeinen Schrift-<lb/> und Volkssprache, steht die Gausprache der Heimathsgenossen, die wir Dialekt<lb/> nennen. Das ist so unleugbar richtig, daß auch Fritz Reuter, der in höherem<lb/> Maße noch als Hebel und Jeremias Gotthelf seinem mecklenburgischen und<lb/> vorpommerschen Platt-Deutsch die innigsten Naturlaute der deutschen Volks-<lb/> seele abzugewinnen wußte, doch jedesmal gezwungen ist, zum Hochdeutschen<lb/> zu greifen, wenn er oder seine Helden die bewegenden Ideen der modernen Zeit<lb/> vortragen. Es ist daher auch keine willkürliche Laune des Dichters, sondern<lb/> echt poetische Intuition dieses Verhältnisses, daß die meisten Mecklenbur¬<lb/> ger, die er uns vorführt, auch dann gleichsam die Scholle ihres Landes an<lb/> den Stiefeln mit sich tragen, und keineswegs aus ihrem heimischen Gesichts-</p><lb/> <note xml:id="FID_125" place="foot"> ")^Neue Bilder aus dem geistigen Leben, 187S Duncker und Humblot.</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten Hi. 187-1.</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0161]
der Literatur aller Völker und Zeiten ihres Gleichen suchen dürfte, und die
um so bedeutendere Wirkung hervorbringen mußte, als der Humor bei Reuter
hervordrang aus einer in ihrem innersten Grunde ernsten und tiefen Seele.
Keinem modernen deutschen Schriftsteller ist es so gelungen, wie ihm in
„Kein Hüsung" und am Anfang der „Stromtid" die ganze Größe des
menschlichen Elendes und menschlichen Kummers so ergreifend zu schil¬
dern, in wenigen, scheinbar durchaus realistischen Strichen, die aber die
innersten Herzenswinkel der Unglücklichen uns bloslegen. Und mit keinem
Andern als mit ihm können wir mit solchem Behagen andauernd heiter sein,
und immer von neuem wieder in die heiterste Stimmung gerathen, so oft wir
seine Dichtungen von neuem lesen. Das sind die Erfolge eines gottbegna¬
deter Dichters, dessen Name und Nachwirkung in den Herzen unsres Volkes
nie erlöschen werden.
Sie werden nie erlöschen, vor Allem weil die Dichtung und der Humor
Reuter's von einer nationalen Bedeutung sind, die bisher von Allen
empfunden oder geahnt, von Wenigen mit Bewußtsein erkannt wurde.
Nichts scheint dieser Annahme mehr zu widersprechen, als der Dialekt
Fritz Reuter's, die Wahl der Stqffe und des Schauplatzes seiner Dichtungen.
Ueberall scheinbar die engste Grenze des Horizontes, namentlich des politischen,
bei allen Handelnden Personen. Der Dialekt schon bietet ein gewaltiges Hemm-
niß für die Erweiterung des Gesichtskreises denjenigen, die auf den Dialekt
als einzige Form der Mittheilung angewiesen sind. In geistvoller Weise
hat Julian Schmidt in seiner Abhandlung über Fritz Reuter*) diese Eigen¬
thümlichkeit der Dialektsprache dargethan. Denn wie eine seit Jahrhunderten
gewordene, aber auch durch Jahrhunderte unveränderte Insel steht der
Dialekt inmitten des lebendigen Stroms der Schriftsprache des gesammten
Volkes. Abgeschlossen für immer in längstvergangenen Tagen, unberührt von
dem gewaltigen literarischen Schaffen auf dem Boden der allgemeinen Schrift-
und Volkssprache, steht die Gausprache der Heimathsgenossen, die wir Dialekt
nennen. Das ist so unleugbar richtig, daß auch Fritz Reuter, der in höherem
Maße noch als Hebel und Jeremias Gotthelf seinem mecklenburgischen und
vorpommerschen Platt-Deutsch die innigsten Naturlaute der deutschen Volks-
seele abzugewinnen wußte, doch jedesmal gezwungen ist, zum Hochdeutschen
zu greifen, wenn er oder seine Helden die bewegenden Ideen der modernen Zeit
vortragen. Es ist daher auch keine willkürliche Laune des Dichters, sondern
echt poetische Intuition dieses Verhältnisses, daß die meisten Mecklenbur¬
ger, die er uns vorführt, auch dann gleichsam die Scholle ihres Landes an
den Stiefeln mit sich tragen, und keineswegs aus ihrem heimischen Gesichts-
")^Neue Bilder aus dem geistigen Leben, 187S Duncker und Humblot.
Grenzboten Hi. 187-1.
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