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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Landlosen Schrittes ging ich weiter, sie hatte mich nicht gesehen, sie hatte
die Glocken nicht gehört, die oben zu läuten begannen, sie trug nur einen
Gedanken in der Seele und auf den gerungenen Händen: -- Nisei icorcliÄ!
Im nächsten Kirchenstühle saß ein altes Muttertum, der das graue Haar
unter dem Schleier hervorsah; auch sie war versunken in eine Welt, auch sie
hatte ihr Herzeleid. Nur mit einem einzigen Blicke streifte ich das schöne
kummervolle Gesicht, aber ich verstand die Geschichte, die in demselben stand.
Es war die Geschichte vom Verlornen Sohn, für ihn flüstert sie hier seit Jahren
ihr tägliches Gebet -- miselieorciiÄ!

Eine wunderbare Gewalt ruht über diesen Hallen, ein Zauber, der selbst
den Fremden, selbst den Gottentwöhnten in seine Kreise zieht. Es ist nicht
bloß die Macht, die der ungeheuere Raum und das schöne Maß seiner Thei¬
lung auf die Sinne übt, es ist nicht Luft und Licht allein, was uns mit
mystischer Gewalt umschwebt, sondern es ist etwas Geistiges, etwas Inner¬
liches, in dessen mächtiger Strömung wir hier stehen, ja etwas seelisches,
das so zur Seele spricht. In dem Herzen s geh einriß der Millionen, die
hier beteten und weinten, liegt die g e h e i in ni ß v o it e Kraft, in der Er¬
griffenheit der Tausende, die hier vor unseren Augen knien und vor Jahr¬
hunderten hier knieten, liegt das Ergreifende dieser Stätte.

Das ist ihre eigentliche Weihe, das ist ihr unsichtbarer wunderthäriger
Schatz, der uns mehr fesselt, als alle silbernen Ampeln und goldenen Gefäße.
Er ist's, der in den wunderbaren Orgeltönen flachend lebendig wird.

Der Grundriß des Domes zeigt uns ein Kreuz, dessen innere Länge
nahezu 450 Fuß beträgt und in fünf Schiffe zergliedert ist, die ganze Grund¬
fläche umfaßt mehr als 110,000 Quadratfuß. So ist es wohl ein weiter
Weg, all diese Räume zu durchwandern.

Schon früher stand an der Stelle des jetzigen Domes eine uralte Kirche,
aus deren Abbruch indessen keine Ueberreste in den neuen Tempel verwendet
Wurden. Denn der Marmor, der aus den Brüchen von Candoglio kam. war
unerschöpflich, und die Gaben, die für das prächtige Denkmal flössen, waren
im Anfange überreich. Galeazzo Visconti selbst opferte einen großen Theil
seiner Beute und seiner Juwelen, Marco Carelli bot ein Geschenk von 35,000
Dukaten und Papst Bonifaz IX. versprach allen Lombarden, daß sie dieselben
Ablässe, wie für eine Pilgerfahrt nach Rom gewinnen könnten, wenn sie nach
Mailand pilgerten und ein Drittel der dadurch ersparten Summe für den
Tempelbau zur Verfügung stellten.

Sicher war derselbe anfänglich viel einfacher, als ihn die spätere Zeit
gestaltete, man hatte zwar die fünf großen Thore und die 52 achteckigen
Säulen schon damals aufgenommen, aber man wollte nach Ambrosianischen
Ritus nur einen einzigen Altar errichten. Alle Seitenaltäre, die jetzt in der


Landlosen Schrittes ging ich weiter, sie hatte mich nicht gesehen, sie hatte
die Glocken nicht gehört, die oben zu läuten begannen, sie trug nur einen
Gedanken in der Seele und auf den gerungenen Händen: — Nisei icorcliÄ!
Im nächsten Kirchenstühle saß ein altes Muttertum, der das graue Haar
unter dem Schleier hervorsah; auch sie war versunken in eine Welt, auch sie
hatte ihr Herzeleid. Nur mit einem einzigen Blicke streifte ich das schöne
kummervolle Gesicht, aber ich verstand die Geschichte, die in demselben stand.
Es war die Geschichte vom Verlornen Sohn, für ihn flüstert sie hier seit Jahren
ihr tägliches Gebet — miselieorciiÄ!

Eine wunderbare Gewalt ruht über diesen Hallen, ein Zauber, der selbst
den Fremden, selbst den Gottentwöhnten in seine Kreise zieht. Es ist nicht
bloß die Macht, die der ungeheuere Raum und das schöne Maß seiner Thei¬
lung auf die Sinne übt, es ist nicht Luft und Licht allein, was uns mit
mystischer Gewalt umschwebt, sondern es ist etwas Geistiges, etwas Inner¬
liches, in dessen mächtiger Strömung wir hier stehen, ja etwas seelisches,
das so zur Seele spricht. In dem Herzen s geh einriß der Millionen, die
hier beteten und weinten, liegt die g e h e i in ni ß v o it e Kraft, in der Er¬
griffenheit der Tausende, die hier vor unseren Augen knien und vor Jahr¬
hunderten hier knieten, liegt das Ergreifende dieser Stätte.

Das ist ihre eigentliche Weihe, das ist ihr unsichtbarer wunderthäriger
Schatz, der uns mehr fesselt, als alle silbernen Ampeln und goldenen Gefäße.
Er ist's, der in den wunderbaren Orgeltönen flachend lebendig wird.

Der Grundriß des Domes zeigt uns ein Kreuz, dessen innere Länge
nahezu 450 Fuß beträgt und in fünf Schiffe zergliedert ist, die ganze Grund¬
fläche umfaßt mehr als 110,000 Quadratfuß. So ist es wohl ein weiter
Weg, all diese Räume zu durchwandern.

Schon früher stand an der Stelle des jetzigen Domes eine uralte Kirche,
aus deren Abbruch indessen keine Ueberreste in den neuen Tempel verwendet
Wurden. Denn der Marmor, der aus den Brüchen von Candoglio kam. war
unerschöpflich, und die Gaben, die für das prächtige Denkmal flössen, waren
im Anfange überreich. Galeazzo Visconti selbst opferte einen großen Theil
seiner Beute und seiner Juwelen, Marco Carelli bot ein Geschenk von 35,000
Dukaten und Papst Bonifaz IX. versprach allen Lombarden, daß sie dieselben
Ablässe, wie für eine Pilgerfahrt nach Rom gewinnen könnten, wenn sie nach
Mailand pilgerten und ein Drittel der dadurch ersparten Summe für den
Tempelbau zur Verfügung stellten.

Sicher war derselbe anfänglich viel einfacher, als ihn die spätere Zeit
gestaltete, man hatte zwar die fünf großen Thore und die 52 achteckigen
Säulen schon damals aufgenommen, aber man wollte nach Ambrosianischen
Ritus nur einen einzigen Altar errichten. Alle Seitenaltäre, die jetzt in der


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[0155] Landlosen Schrittes ging ich weiter, sie hatte mich nicht gesehen, sie hatte die Glocken nicht gehört, die oben zu läuten begannen, sie trug nur einen Gedanken in der Seele und auf den gerungenen Händen: — Nisei icorcliÄ! Im nächsten Kirchenstühle saß ein altes Muttertum, der das graue Haar unter dem Schleier hervorsah; auch sie war versunken in eine Welt, auch sie hatte ihr Herzeleid. Nur mit einem einzigen Blicke streifte ich das schöne kummervolle Gesicht, aber ich verstand die Geschichte, die in demselben stand. Es war die Geschichte vom Verlornen Sohn, für ihn flüstert sie hier seit Jahren ihr tägliches Gebet — miselieorciiÄ! Eine wunderbare Gewalt ruht über diesen Hallen, ein Zauber, der selbst den Fremden, selbst den Gottentwöhnten in seine Kreise zieht. Es ist nicht bloß die Macht, die der ungeheuere Raum und das schöne Maß seiner Thei¬ lung auf die Sinne übt, es ist nicht Luft und Licht allein, was uns mit mystischer Gewalt umschwebt, sondern es ist etwas Geistiges, etwas Inner¬ liches, in dessen mächtiger Strömung wir hier stehen, ja etwas seelisches, das so zur Seele spricht. In dem Herzen s geh einriß der Millionen, die hier beteten und weinten, liegt die g e h e i in ni ß v o it e Kraft, in der Er¬ griffenheit der Tausende, die hier vor unseren Augen knien und vor Jahr¬ hunderten hier knieten, liegt das Ergreifende dieser Stätte. Das ist ihre eigentliche Weihe, das ist ihr unsichtbarer wunderthäriger Schatz, der uns mehr fesselt, als alle silbernen Ampeln und goldenen Gefäße. Er ist's, der in den wunderbaren Orgeltönen flachend lebendig wird. Der Grundriß des Domes zeigt uns ein Kreuz, dessen innere Länge nahezu 450 Fuß beträgt und in fünf Schiffe zergliedert ist, die ganze Grund¬ fläche umfaßt mehr als 110,000 Quadratfuß. So ist es wohl ein weiter Weg, all diese Räume zu durchwandern. Schon früher stand an der Stelle des jetzigen Domes eine uralte Kirche, aus deren Abbruch indessen keine Ueberreste in den neuen Tempel verwendet Wurden. Denn der Marmor, der aus den Brüchen von Candoglio kam. war unerschöpflich, und die Gaben, die für das prächtige Denkmal flössen, waren im Anfange überreich. Galeazzo Visconti selbst opferte einen großen Theil seiner Beute und seiner Juwelen, Marco Carelli bot ein Geschenk von 35,000 Dukaten und Papst Bonifaz IX. versprach allen Lombarden, daß sie dieselben Ablässe, wie für eine Pilgerfahrt nach Rom gewinnen könnten, wenn sie nach Mailand pilgerten und ein Drittel der dadurch ersparten Summe für den Tempelbau zur Verfügung stellten. Sicher war derselbe anfänglich viel einfacher, als ihn die spätere Zeit gestaltete, man hatte zwar die fünf großen Thore und die 52 achteckigen Säulen schon damals aufgenommen, aber man wollte nach Ambrosianischen Ritus nur einen einzigen Altar errichten. Alle Seitenaltäre, die jetzt in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/155>, abgerufen am 22.07.2024.