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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Es ließ sich nicht daran zweifeln, daß zwischen dem Wechsel in der
Sprache Mac Mahon's und der schwankenden Haltung der Mehrheit ein
innerer Zusammenhang stattfand, daß beide Thatsachen demselben Be¬
weggrunde entsprungen waren: der Besorgniß vor einer neuen Schwenkung
des Frohsdorfer Hofes. Unmittelbar nach Mac Mahon's letzten Aeußerungen
brachte ein Blatt Enthüllungen, nach denen im Widerspruche mit Chesnelong's
Mittheilungen Chambord unerschütterlich auf seinem alten Standpunkt be-
harrte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Regierung von dieser neuen uner¬
warteten Wendung eher Kunde erhielt, als die "Libertv", und daß sie in Folge
dessen sich beeilte, die schon aufgegebene Rückzugslinie wieder zu gewinnen. In
den Reihen der Rechten schenkte man zwar den wiederholten feierlichen Er¬
klärungen Chesnelong's, die auch durch die "Union" von Neuem bestätigt
wurden, mehr Glauben, als den von republicanischer Seite in Umlauf gesetzten
Gerüchten, aber man war doch wenigstens mißtrauisch geworden, und entschloß
sich deshalb, den entscheidenden Schritt nicht eher zu thun, als bis die ange¬
kündigte und sehnlichst erwartete Kundgebung des Grafen von Chambord
erschienen wäre. Also nicht die Rücksicht auf die noch im Rückstände befind¬
lichen Budgetarbeiten des Herrn Magne, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach
lediglich die Furcht vor einem übereilten und falschen Schritte bewog die
Rechte auf die augenblickliche Einberufung der Nationalversammlung zu ver¬
zichten.

Das Verhalten der Rechten war correct, Vorsicht war geboten; es war
durchaus erklärlich, daß sie ihre Schiffe nicht verbrannte, sondern sich den
Rückweg für den Fall des Scheiterns ihres Planes offen hielt. Es läßt sich
wohl behaupten, daß ohne diese vorsichtige Haltung die Gründung des
Septennats unmöglich gewesen wäre. Man versetze sich in die Lage: die
Versammlung tritt zusammen, um Heinrich V. als König auszurufen; in
diesem Augenblicke wäre der Absagebrief des Königs erschienen. Welche Nieder¬
lage, welche Verwirrung! Die Existenz der Nationalversammlung würde auf
dem Spiel gestanden haben. Aber andererseits ist doch die Frage berechtigt,
ob nicht ein kühneres und rücksichtsloseres Vorgehen die Bollmachtenverlänge-
rung überflüssig gemacht haben würde, ob nicht unter dem Eindruck, den eine
Kundgebung, wie die Rechte sie beabsichtigte, auf den Grafen und dessen Um¬
gebung machen mußte, der verhängnißvolle Brief vielleicht ungeschrieben ge¬
blieben wäre. Man wußte oder ahnte wenigstens, daß Chambord wieder von
doctrinären Gewissensscrupeln heimgesucht war. Würden diese Scrupel Stand
gehalten haben vor der inhaltschweren Thatsache, daß die Versammlung, aller-
dings auf Grundlage der von Chesnelong übermittelten Zugeständnisse, ihn
zum Könige ausgerufen? würde er in diesem Augenblicke der Erfüllung seiner
mehr als 40 Jahren lang genährten Hoffnungen und Träume die Boten


Es ließ sich nicht daran zweifeln, daß zwischen dem Wechsel in der
Sprache Mac Mahon's und der schwankenden Haltung der Mehrheit ein
innerer Zusammenhang stattfand, daß beide Thatsachen demselben Be¬
weggrunde entsprungen waren: der Besorgniß vor einer neuen Schwenkung
des Frohsdorfer Hofes. Unmittelbar nach Mac Mahon's letzten Aeußerungen
brachte ein Blatt Enthüllungen, nach denen im Widerspruche mit Chesnelong's
Mittheilungen Chambord unerschütterlich auf seinem alten Standpunkt be-
harrte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Regierung von dieser neuen uner¬
warteten Wendung eher Kunde erhielt, als die „Libertv", und daß sie in Folge
dessen sich beeilte, die schon aufgegebene Rückzugslinie wieder zu gewinnen. In
den Reihen der Rechten schenkte man zwar den wiederholten feierlichen Er¬
klärungen Chesnelong's, die auch durch die „Union" von Neuem bestätigt
wurden, mehr Glauben, als den von republicanischer Seite in Umlauf gesetzten
Gerüchten, aber man war doch wenigstens mißtrauisch geworden, und entschloß
sich deshalb, den entscheidenden Schritt nicht eher zu thun, als bis die ange¬
kündigte und sehnlichst erwartete Kundgebung des Grafen von Chambord
erschienen wäre. Also nicht die Rücksicht auf die noch im Rückstände befind¬
lichen Budgetarbeiten des Herrn Magne, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach
lediglich die Furcht vor einem übereilten und falschen Schritte bewog die
Rechte auf die augenblickliche Einberufung der Nationalversammlung zu ver¬
zichten.

Das Verhalten der Rechten war correct, Vorsicht war geboten; es war
durchaus erklärlich, daß sie ihre Schiffe nicht verbrannte, sondern sich den
Rückweg für den Fall des Scheiterns ihres Planes offen hielt. Es läßt sich
wohl behaupten, daß ohne diese vorsichtige Haltung die Gründung des
Septennats unmöglich gewesen wäre. Man versetze sich in die Lage: die
Versammlung tritt zusammen, um Heinrich V. als König auszurufen; in
diesem Augenblicke wäre der Absagebrief des Königs erschienen. Welche Nieder¬
lage, welche Verwirrung! Die Existenz der Nationalversammlung würde auf
dem Spiel gestanden haben. Aber andererseits ist doch die Frage berechtigt,
ob nicht ein kühneres und rücksichtsloseres Vorgehen die Bollmachtenverlänge-
rung überflüssig gemacht haben würde, ob nicht unter dem Eindruck, den eine
Kundgebung, wie die Rechte sie beabsichtigte, auf den Grafen und dessen Um¬
gebung machen mußte, der verhängnißvolle Brief vielleicht ungeschrieben ge¬
blieben wäre. Man wußte oder ahnte wenigstens, daß Chambord wieder von
doctrinären Gewissensscrupeln heimgesucht war. Würden diese Scrupel Stand
gehalten haben vor der inhaltschweren Thatsache, daß die Versammlung, aller-
dings auf Grundlage der von Chesnelong übermittelten Zugeständnisse, ihn
zum Könige ausgerufen? würde er in diesem Augenblicke der Erfüllung seiner
mehr als 40 Jahren lang genährten Hoffnungen und Träume die Boten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/498>, abgerufen am 25.12.2024.