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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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der Versammlung kühl und steif auf seine bekannten Grundsätze verwiesen
haben? Die Rechte mußte ohne Zweifel darauf gefaßt sein. Aber andererseits
durfte sie sich nicht verhehlen, daß, wenn die Gerüchte von dem erneuten
Schwanken des Grafen wirklich begründet waren, nur noch ein äußerster
Schritt, bei dem allerdings Alles aufs Spiel gesetzt werden mußte, die Mög¬
lichkeit bot, die Angelegenheit dem ihrem Wunsche entsprechenden Ziele zu¬
zuführen.

Am 30. Oktober, in einem Augenblicke, wo man die Gefahr bereits wieder
überwunden glaubte, erschien der Brief des Grafen von Chambord an Herrn
Chesnelong, der alle Hoffnungen der Royalisten vernichtete. Wenn Heinrich
von Bourbon, wie sich nicht bezweifeln läßt -- denn Chesnelong's Mit¬
theilungen wären unstreitig vollkommen der Wahrheit entsprechend -- von der
Aussicht auf die Krone verblendet, sich entschlossen hatte, sein 43 Jahre lang
bewahrtes Princip zum Opfer zu bringen, so schüttelte er setzt jeden Gedanken
an Nachgiebigkeit wie einen bösen Traum von sich ab. Der ganze Mann,
wie ich ihn zu schildern versucht habe, tritt in jeder Zeile dieses denkwürdigen
Schreibens hervor. Seine Person ist Nichts, sein Princip ist Alles. Sein
Glauben an die Wunderkraft dieses Princips ist unerschütterlich, dabei von
einer fast kindlichen Naivetät. Er steht einsam in dem neuen Frankreich,
welches er sich zu regieren berufen fühlt; er lebt in einer Traumwelt, deren
Gebilde ihm zu Wirklichkeiten geworden sind. Selbst seine Gegner können seiner
Ueberzeugungstreue eine mit Mitleiden gepaarte Achtung nicht versagen,
während andererseits auch wenigstens die besonneneren unter seinen Anhängern
sich nicht verhehlen konnten, daß mit diesen Grundsätzen der bis in seine
Tiefen zerrüttete Staat sich nicht heilen und wiederherstellen lasse.

Die Restauration war gescheitert, den Franzosen war eine neue Probe
mit dem alten Königthum erspart. In dem Hafen des Septennats suchte
die conservative Partei Schutz vor völliger Vernichtung. Aber das Septennat
ist keine Lösung des großen Zukunftsproblems, es ist nur die Vertagung der
Lösung. Es ist noch nicht an der Zeit, über diese neueste Phase der fran¬
zösischen Entwicklungsgeschichte ein abschließendes Urtheil zu fällen. Was vor¬
läufig in die Augen fällt und dem Septennat sein eigenthümliches Gepräge
giebt, das ist die Hilflosigkeit der königlichen Parteien, sowohl der altbourbo-
nischen wie der orleantstischen, constitutionellen. und das Erstarken und der
wachsende Einfluß der Bonapartisten, der Vertreter des demokratischen Abso¬
lutismus. Die gegenwärtige französische Republik ist im Grunde und ihrem
Wesen nach eine parlamentarische Monarchie mit einem auf Zeit angestellten
Herrscher. Aber leider hat die Geschichte der letzten drei Jahre wiederum
unwiderleglich die Unfähigkeit der Franzosen für das parlamentarische Regime
bewiesen, das immer nur aufgerichtet zu werden scheint, um im ziellosen


der Versammlung kühl und steif auf seine bekannten Grundsätze verwiesen
haben? Die Rechte mußte ohne Zweifel darauf gefaßt sein. Aber andererseits
durfte sie sich nicht verhehlen, daß, wenn die Gerüchte von dem erneuten
Schwanken des Grafen wirklich begründet waren, nur noch ein äußerster
Schritt, bei dem allerdings Alles aufs Spiel gesetzt werden mußte, die Mög¬
lichkeit bot, die Angelegenheit dem ihrem Wunsche entsprechenden Ziele zu¬
zuführen.

Am 30. Oktober, in einem Augenblicke, wo man die Gefahr bereits wieder
überwunden glaubte, erschien der Brief des Grafen von Chambord an Herrn
Chesnelong, der alle Hoffnungen der Royalisten vernichtete. Wenn Heinrich
von Bourbon, wie sich nicht bezweifeln läßt — denn Chesnelong's Mit¬
theilungen wären unstreitig vollkommen der Wahrheit entsprechend — von der
Aussicht auf die Krone verblendet, sich entschlossen hatte, sein 43 Jahre lang
bewahrtes Princip zum Opfer zu bringen, so schüttelte er setzt jeden Gedanken
an Nachgiebigkeit wie einen bösen Traum von sich ab. Der ganze Mann,
wie ich ihn zu schildern versucht habe, tritt in jeder Zeile dieses denkwürdigen
Schreibens hervor. Seine Person ist Nichts, sein Princip ist Alles. Sein
Glauben an die Wunderkraft dieses Princips ist unerschütterlich, dabei von
einer fast kindlichen Naivetät. Er steht einsam in dem neuen Frankreich,
welches er sich zu regieren berufen fühlt; er lebt in einer Traumwelt, deren
Gebilde ihm zu Wirklichkeiten geworden sind. Selbst seine Gegner können seiner
Ueberzeugungstreue eine mit Mitleiden gepaarte Achtung nicht versagen,
während andererseits auch wenigstens die besonneneren unter seinen Anhängern
sich nicht verhehlen konnten, daß mit diesen Grundsätzen der bis in seine
Tiefen zerrüttete Staat sich nicht heilen und wiederherstellen lasse.

Die Restauration war gescheitert, den Franzosen war eine neue Probe
mit dem alten Königthum erspart. In dem Hafen des Septennats suchte
die conservative Partei Schutz vor völliger Vernichtung. Aber das Septennat
ist keine Lösung des großen Zukunftsproblems, es ist nur die Vertagung der
Lösung. Es ist noch nicht an der Zeit, über diese neueste Phase der fran¬
zösischen Entwicklungsgeschichte ein abschließendes Urtheil zu fällen. Was vor¬
läufig in die Augen fällt und dem Septennat sein eigenthümliches Gepräge
giebt, das ist die Hilflosigkeit der königlichen Parteien, sowohl der altbourbo-
nischen wie der orleantstischen, constitutionellen. und das Erstarken und der
wachsende Einfluß der Bonapartisten, der Vertreter des demokratischen Abso¬
lutismus. Die gegenwärtige französische Republik ist im Grunde und ihrem
Wesen nach eine parlamentarische Monarchie mit einem auf Zeit angestellten
Herrscher. Aber leider hat die Geschichte der letzten drei Jahre wiederum
unwiderleglich die Unfähigkeit der Franzosen für das parlamentarische Regime
bewiesen, das immer nur aufgerichtet zu werden scheint, um im ziellosen


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[0499] der Versammlung kühl und steif auf seine bekannten Grundsätze verwiesen haben? Die Rechte mußte ohne Zweifel darauf gefaßt sein. Aber andererseits durfte sie sich nicht verhehlen, daß, wenn die Gerüchte von dem erneuten Schwanken des Grafen wirklich begründet waren, nur noch ein äußerster Schritt, bei dem allerdings Alles aufs Spiel gesetzt werden mußte, die Mög¬ lichkeit bot, die Angelegenheit dem ihrem Wunsche entsprechenden Ziele zu¬ zuführen. Am 30. Oktober, in einem Augenblicke, wo man die Gefahr bereits wieder überwunden glaubte, erschien der Brief des Grafen von Chambord an Herrn Chesnelong, der alle Hoffnungen der Royalisten vernichtete. Wenn Heinrich von Bourbon, wie sich nicht bezweifeln läßt — denn Chesnelong's Mit¬ theilungen wären unstreitig vollkommen der Wahrheit entsprechend — von der Aussicht auf die Krone verblendet, sich entschlossen hatte, sein 43 Jahre lang bewahrtes Princip zum Opfer zu bringen, so schüttelte er setzt jeden Gedanken an Nachgiebigkeit wie einen bösen Traum von sich ab. Der ganze Mann, wie ich ihn zu schildern versucht habe, tritt in jeder Zeile dieses denkwürdigen Schreibens hervor. Seine Person ist Nichts, sein Princip ist Alles. Sein Glauben an die Wunderkraft dieses Princips ist unerschütterlich, dabei von einer fast kindlichen Naivetät. Er steht einsam in dem neuen Frankreich, welches er sich zu regieren berufen fühlt; er lebt in einer Traumwelt, deren Gebilde ihm zu Wirklichkeiten geworden sind. Selbst seine Gegner können seiner Ueberzeugungstreue eine mit Mitleiden gepaarte Achtung nicht versagen, während andererseits auch wenigstens die besonneneren unter seinen Anhängern sich nicht verhehlen konnten, daß mit diesen Grundsätzen der bis in seine Tiefen zerrüttete Staat sich nicht heilen und wiederherstellen lasse. Die Restauration war gescheitert, den Franzosen war eine neue Probe mit dem alten Königthum erspart. In dem Hafen des Septennats suchte die conservative Partei Schutz vor völliger Vernichtung. Aber das Septennat ist keine Lösung des großen Zukunftsproblems, es ist nur die Vertagung der Lösung. Es ist noch nicht an der Zeit, über diese neueste Phase der fran¬ zösischen Entwicklungsgeschichte ein abschließendes Urtheil zu fällen. Was vor¬ läufig in die Augen fällt und dem Septennat sein eigenthümliches Gepräge giebt, das ist die Hilflosigkeit der königlichen Parteien, sowohl der altbourbo- nischen wie der orleantstischen, constitutionellen. und das Erstarken und der wachsende Einfluß der Bonapartisten, der Vertreter des demokratischen Abso¬ lutismus. Die gegenwärtige französische Republik ist im Grunde und ihrem Wesen nach eine parlamentarische Monarchie mit einem auf Zeit angestellten Herrscher. Aber leider hat die Geschichte der letzten drei Jahre wiederum unwiderleglich die Unfähigkeit der Franzosen für das parlamentarische Regime bewiesen, das immer nur aufgerichtet zu werden scheint, um im ziellosen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/499>, abgerufen am 25.08.2024.