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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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finden lassen, wenn er nämlich auf dem Punkte stände, Alles zu gewinnen
oder Alles zu verlieren. Viel eher würde er sich zur Verständigung mit
Oesterreich entschließen, an der er noch in der letzten Zeit ohne Wissen der
Minister gearbeitet habe.- Es bedarf heute, nach den Aufklärungen, welche
Bismarck 1870 über seine "dilatorischen Verhandlungen" gegeben, kaum einer
Bemerkung, um jedes Mißverständniß dieses Gespräches mit Govone zu ver¬
hüten. Der preußische Premier wußte recht gut, daß Alles, was er Govone
sage, Napoleon zu Ohren kommen werde, und sagte ihm deshalb gerade das,
was geeignet war, den Kaiser hinzuhalten. Länger als ein paar Tage
konnte das freilich nicht gelingen; denn sobald der Congreß gescheitert war
und Bismarck's Reise nach Paris nicht mehr in Aussicht stand, verlangte
Frankreich natürlich in Berlin eine bestimmte Aeußerung. Diese konnte nur
ablehnend lauten, und dann war Frankreichs Rache zu fürchten, dann lag es
besonders nahe, zu besorgen, daß es Italiens Beistand wirkungslos zu machen
suchen werde. So schwer war das aber nicht. Napoleon hätte sich nur Ve-
netien förmlich abtreten zu lassen und der italienischen Armee zu untersagen
brauchen, dieses nunmehr französische Gebiet zu berühren, so wäre das ganze
österreichische Heer gegen Preußen verwendbar gewesen. Es überrascht uns
deshalb gar nicht, zu sehen, wie Bismarck am 1. und 2. Juni, so weit es
irgend thunlich ist, auf Italien zu drücken sucht, daß es schnell eine Gelegen¬
heit zum Kriege ergreife; und noch weniger überrascht es uns, daß Lamarmora
nichts davon wissen will, und daraus nur Nahrung zu neuem Mißtrauen
gegen einen Staatsmann schöpft, der ihn jetzt zum Angreifen drängt, während
er vier Wochen vorher erklärt hat, dem Angreifer keine preußische Hülfe ver¬
bürgen zu können.

Wir erwähnten schon, daß der Congreß inzwischen an Oesterreichs Be¬
dingungen gescheitert war. Ausführlicher dieser Vorgänge zu gedenken, liegt
kein Anlaß vor. Die österreichische Clausel ging bekanntlich dahin, daß jede
Verhandlung von dem Congreß ausgeschlossen werde, die einer der betheiligten
Mächte Vergrößerung oder Machtzuwachs bringen könnte. Damit schien nicht
allein jede Möglichkeit eines Resultat abgeschnitten, sondern eigentlich auch
das Zugeständnis) einer freiwilligen Abtretung Venetiens zurückgenommen. Jeden¬
falls sieht man daraus, daß Oesterreich nicht am K. Mai versprochen haben
kann, Venetien herauszugeben ohne dafür Schlesien zu erhalten. Wenn es
dazu bereit gewesen wäre, wie Lamarmora auf Grund des oben erwähnten
Nigra'schen Telegramms vom 6. Mai behauptet, so hätte es im Gegentheil
den Congreß wünschen, auf demselben Venetien abtreten, gegen Preußen sich
aber unnachgiebig zeigen müssen, um dann mit diesem allein den Krieg zu
beginnen. In Wirklichkeit aber war es niemals von seinem ersten Programm
vom 4. Mai abgegangen und stand noch jetzt auf demselben. Allerdings


finden lassen, wenn er nämlich auf dem Punkte stände, Alles zu gewinnen
oder Alles zu verlieren. Viel eher würde er sich zur Verständigung mit
Oesterreich entschließen, an der er noch in der letzten Zeit ohne Wissen der
Minister gearbeitet habe.- Es bedarf heute, nach den Aufklärungen, welche
Bismarck 1870 über seine „dilatorischen Verhandlungen" gegeben, kaum einer
Bemerkung, um jedes Mißverständniß dieses Gespräches mit Govone zu ver¬
hüten. Der preußische Premier wußte recht gut, daß Alles, was er Govone
sage, Napoleon zu Ohren kommen werde, und sagte ihm deshalb gerade das,
was geeignet war, den Kaiser hinzuhalten. Länger als ein paar Tage
konnte das freilich nicht gelingen; denn sobald der Congreß gescheitert war
und Bismarck's Reise nach Paris nicht mehr in Aussicht stand, verlangte
Frankreich natürlich in Berlin eine bestimmte Aeußerung. Diese konnte nur
ablehnend lauten, und dann war Frankreichs Rache zu fürchten, dann lag es
besonders nahe, zu besorgen, daß es Italiens Beistand wirkungslos zu machen
suchen werde. So schwer war das aber nicht. Napoleon hätte sich nur Ve-
netien förmlich abtreten zu lassen und der italienischen Armee zu untersagen
brauchen, dieses nunmehr französische Gebiet zu berühren, so wäre das ganze
österreichische Heer gegen Preußen verwendbar gewesen. Es überrascht uns
deshalb gar nicht, zu sehen, wie Bismarck am 1. und 2. Juni, so weit es
irgend thunlich ist, auf Italien zu drücken sucht, daß es schnell eine Gelegen¬
heit zum Kriege ergreife; und noch weniger überrascht es uns, daß Lamarmora
nichts davon wissen will, und daraus nur Nahrung zu neuem Mißtrauen
gegen einen Staatsmann schöpft, der ihn jetzt zum Angreifen drängt, während
er vier Wochen vorher erklärt hat, dem Angreifer keine preußische Hülfe ver¬
bürgen zu können.

Wir erwähnten schon, daß der Congreß inzwischen an Oesterreichs Be¬
dingungen gescheitert war. Ausführlicher dieser Vorgänge zu gedenken, liegt
kein Anlaß vor. Die österreichische Clausel ging bekanntlich dahin, daß jede
Verhandlung von dem Congreß ausgeschlossen werde, die einer der betheiligten
Mächte Vergrößerung oder Machtzuwachs bringen könnte. Damit schien nicht
allein jede Möglichkeit eines Resultat abgeschnitten, sondern eigentlich auch
das Zugeständnis) einer freiwilligen Abtretung Venetiens zurückgenommen. Jeden¬
falls sieht man daraus, daß Oesterreich nicht am K. Mai versprochen haben
kann, Venetien herauszugeben ohne dafür Schlesien zu erhalten. Wenn es
dazu bereit gewesen wäre, wie Lamarmora auf Grund des oben erwähnten
Nigra'schen Telegramms vom 6. Mai behauptet, so hätte es im Gegentheil
den Congreß wünschen, auf demselben Venetien abtreten, gegen Preußen sich
aber unnachgiebig zeigen müssen, um dann mit diesem allein den Krieg zu
beginnen. In Wirklichkeit aber war es niemals von seinem ersten Programm
vom 4. Mai abgegangen und stand noch jetzt auf demselben. Allerdings


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/459>, abgerufen am 26.08.2024.