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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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aufgestellt waren. Konnte aber ein Königthum, nach dessen Grundsätzen
Alles, was in Frankreich thatsächlich Geltung erlangt hat, das Ergebniß
eines sündhaften Abfalls von allen göttlichen und menschlichen Rechten war,
der Nation die Ruhe und den inneren Frieden geben, um deren Willen man
ihr zumuthete, zum Erbkönigthum als dem letzten Hoffnungsanker ihre Zu¬
flucht zu nehmen? Der König sollte die Parteien versöhnen, er sollte hoch
erhaben über den Parteien stehen, und er wollte nicht von der Fahne lassen,
welche die kleinste aber herrschsüchtigste aller Parteien zum Sinnbild eines
aus theokratischer, monarchisch-absolutistischen und feudal-aristokratischen
Elementen zusammengesetzten Staatsideals erhoben hatte.

Für die Wiederherstellung des Königthums auf diesen Grundlagen ließ
sich eine parlamentarische Mehrheit nicht gewinnen, das sahen auch die Ge¬
mäßigten unter den Legitimisten sehr wohl ein. Jedem ernsthaften Restau¬
rationsversuche mußte daher eine unzweideutige Erklärung des Grafen von
Chambord vorhergehen, daß er sich von den theokratisch-absolutistischen Vor¬
stellungen, die bisher den engen Kreis seiner Gedanken erfüllten und seiner
Persönlichkeit ihr eigenthümliches Gepräge aufgedrückt hatten, lossagen, mit
andern Worten, daß er auf die weiße Fahne verzichte. Diesen Verzicht zu
erlangen, das war die nächste Aufgabe der Fusionspartei. Gelang es ihr,
dies durchzusetzen, so war sie wegen des weiteren Verlaufs der Bewegung
unbesorgt. Sie glaubte für diesen Fall der Mehrheit der Nationalversamm¬
lung sicher zu sein, und im Besitz der Mehrheit hielt sie sich für stark genug,
um ihre Beschlüsse dem Lande aufzunöthigen, ja sie war überzeugt, daß es
dem Lande gegenüber des Zwanges gar nicht bedürfe, daß das Volk vielmehr
den König als den Retter des Staates und der Gesellschaft freudig begrüßen
werde. Das Recht, endgültig über die Zukunft Frankreichs zu entscheiden,
nahm die Nationalversammlung bekanntlich für sich in Anspruch, in ihre
Macht setzte sie volles Vertrauen; der Aufgabe jedoch, mit der Erbmonarchie
das alte Regime wiederherzustellen, hielt auch die Mehrheit sich nicht für ge¬
wachsen.

Das freilich war einleuchtend, daß die Verhandlungen der Parteien un¬
tereinander und mit dem Grafen von Chambord nicht vor dem Publikum
in der Nationalversammlung geführt werden konnten. In dem Augenblick,
wo der Antrag auf Zurückberufung des Königs gestellt wurde, mußte die
Mehrheit als geschlossene Einheit dastehen; sie mußte einig sein über die ver"
fassungsmäßigen Grundlagen des neuen Königthums, einig über die Fahnen¬
frage, einig über die Art und Welse der Berufung, was bei dem starren Ei¬
gensinn, mit dem der Graf auf die Formen hielt, bei der Aengstlichkeit, mit
der er jeden Schritt vermied, durch den er seiner Würde und seinem Recht
etwas zu vergeben fürchtete, nicht der leichteste Theil der zu lösenden Aufgabe


aufgestellt waren. Konnte aber ein Königthum, nach dessen Grundsätzen
Alles, was in Frankreich thatsächlich Geltung erlangt hat, das Ergebniß
eines sündhaften Abfalls von allen göttlichen und menschlichen Rechten war,
der Nation die Ruhe und den inneren Frieden geben, um deren Willen man
ihr zumuthete, zum Erbkönigthum als dem letzten Hoffnungsanker ihre Zu¬
flucht zu nehmen? Der König sollte die Parteien versöhnen, er sollte hoch
erhaben über den Parteien stehen, und er wollte nicht von der Fahne lassen,
welche die kleinste aber herrschsüchtigste aller Parteien zum Sinnbild eines
aus theokratischer, monarchisch-absolutistischen und feudal-aristokratischen
Elementen zusammengesetzten Staatsideals erhoben hatte.

Für die Wiederherstellung des Königthums auf diesen Grundlagen ließ
sich eine parlamentarische Mehrheit nicht gewinnen, das sahen auch die Ge¬
mäßigten unter den Legitimisten sehr wohl ein. Jedem ernsthaften Restau¬
rationsversuche mußte daher eine unzweideutige Erklärung des Grafen von
Chambord vorhergehen, daß er sich von den theokratisch-absolutistischen Vor¬
stellungen, die bisher den engen Kreis seiner Gedanken erfüllten und seiner
Persönlichkeit ihr eigenthümliches Gepräge aufgedrückt hatten, lossagen, mit
andern Worten, daß er auf die weiße Fahne verzichte. Diesen Verzicht zu
erlangen, das war die nächste Aufgabe der Fusionspartei. Gelang es ihr,
dies durchzusetzen, so war sie wegen des weiteren Verlaufs der Bewegung
unbesorgt. Sie glaubte für diesen Fall der Mehrheit der Nationalversamm¬
lung sicher zu sein, und im Besitz der Mehrheit hielt sie sich für stark genug,
um ihre Beschlüsse dem Lande aufzunöthigen, ja sie war überzeugt, daß es
dem Lande gegenüber des Zwanges gar nicht bedürfe, daß das Volk vielmehr
den König als den Retter des Staates und der Gesellschaft freudig begrüßen
werde. Das Recht, endgültig über die Zukunft Frankreichs zu entscheiden,
nahm die Nationalversammlung bekanntlich für sich in Anspruch, in ihre
Macht setzte sie volles Vertrauen; der Aufgabe jedoch, mit der Erbmonarchie
das alte Regime wiederherzustellen, hielt auch die Mehrheit sich nicht für ge¬
wachsen.

Das freilich war einleuchtend, daß die Verhandlungen der Parteien un¬
tereinander und mit dem Grafen von Chambord nicht vor dem Publikum
in der Nationalversammlung geführt werden konnten. In dem Augenblick,
wo der Antrag auf Zurückberufung des Königs gestellt wurde, mußte die
Mehrheit als geschlossene Einheit dastehen; sie mußte einig sein über die ver«
fassungsmäßigen Grundlagen des neuen Königthums, einig über die Fahnen¬
frage, einig über die Art und Welse der Berufung, was bei dem starren Ei¬
gensinn, mit dem der Graf auf die Formen hielt, bei der Aengstlichkeit, mit
der er jeden Schritt vermied, durch den er seiner Würde und seinem Recht
etwas zu vergeben fürchtete, nicht der leichteste Theil der zu lösenden Aufgabe


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[0410] aufgestellt waren. Konnte aber ein Königthum, nach dessen Grundsätzen Alles, was in Frankreich thatsächlich Geltung erlangt hat, das Ergebniß eines sündhaften Abfalls von allen göttlichen und menschlichen Rechten war, der Nation die Ruhe und den inneren Frieden geben, um deren Willen man ihr zumuthete, zum Erbkönigthum als dem letzten Hoffnungsanker ihre Zu¬ flucht zu nehmen? Der König sollte die Parteien versöhnen, er sollte hoch erhaben über den Parteien stehen, und er wollte nicht von der Fahne lassen, welche die kleinste aber herrschsüchtigste aller Parteien zum Sinnbild eines aus theokratischer, monarchisch-absolutistischen und feudal-aristokratischen Elementen zusammengesetzten Staatsideals erhoben hatte. Für die Wiederherstellung des Königthums auf diesen Grundlagen ließ sich eine parlamentarische Mehrheit nicht gewinnen, das sahen auch die Ge¬ mäßigten unter den Legitimisten sehr wohl ein. Jedem ernsthaften Restau¬ rationsversuche mußte daher eine unzweideutige Erklärung des Grafen von Chambord vorhergehen, daß er sich von den theokratisch-absolutistischen Vor¬ stellungen, die bisher den engen Kreis seiner Gedanken erfüllten und seiner Persönlichkeit ihr eigenthümliches Gepräge aufgedrückt hatten, lossagen, mit andern Worten, daß er auf die weiße Fahne verzichte. Diesen Verzicht zu erlangen, das war die nächste Aufgabe der Fusionspartei. Gelang es ihr, dies durchzusetzen, so war sie wegen des weiteren Verlaufs der Bewegung unbesorgt. Sie glaubte für diesen Fall der Mehrheit der Nationalversamm¬ lung sicher zu sein, und im Besitz der Mehrheit hielt sie sich für stark genug, um ihre Beschlüsse dem Lande aufzunöthigen, ja sie war überzeugt, daß es dem Lande gegenüber des Zwanges gar nicht bedürfe, daß das Volk vielmehr den König als den Retter des Staates und der Gesellschaft freudig begrüßen werde. Das Recht, endgültig über die Zukunft Frankreichs zu entscheiden, nahm die Nationalversammlung bekanntlich für sich in Anspruch, in ihre Macht setzte sie volles Vertrauen; der Aufgabe jedoch, mit der Erbmonarchie das alte Regime wiederherzustellen, hielt auch die Mehrheit sich nicht für ge¬ wachsen. Das freilich war einleuchtend, daß die Verhandlungen der Parteien un¬ tereinander und mit dem Grafen von Chambord nicht vor dem Publikum in der Nationalversammlung geführt werden konnten. In dem Augenblick, wo der Antrag auf Zurückberufung des Königs gestellt wurde, mußte die Mehrheit als geschlossene Einheit dastehen; sie mußte einig sein über die ver« fassungsmäßigen Grundlagen des neuen Königthums, einig über die Fahnen¬ frage, einig über die Art und Welse der Berufung, was bei dem starren Ei¬ gensinn, mit dem der Graf auf die Formen hielt, bei der Aengstlichkeit, mit der er jeden Schritt vermied, durch den er seiner Würde und seinem Recht etwas zu vergeben fürchtete, nicht der leichteste Theil der zu lösenden Aufgabe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/410>, abgerufen am 26.12.2024.