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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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in den Hafen des cäsarischen Despotismus geflüchtet; das Plebiscit hatte die
Republikaner außer Besitz gesetzt und isolirt. Sie mußten den Anschluß an die
monarchischen Elemente der Opposition suchen; sie mußten auf dem Boden
des parlamentarischen Systems, gegen das wenigstens der radikale Theil der
Republikaner stets eine entschiedene Abneigung empfunden hatte. Stellung
nehmen. Im parlamentarischen Kampfe aber fanden sie an den ihnen jetzt
verbündeten Monarchisten der alten Schule Nebenbuhler, die ihnen entschieden
überlegen waren. Die Jules Favre, Simon, Piccard, Gambetta brauchte
Napoleon nicht zu fürchten: viel gefährlichere Feinde waren für sie die alten
Orleanisten, vor Allem Herr Thiers, dessen in der Form stets gemäßigten,
von allen radikalen Tendenzen sich fern haltenden Angriffe Napoleon mehr
Schaden zugefügt haben, als die heftigsten und pathetischsten Declamationen
der republikanischen Wortführer. Thiers' Stellung zum Kaiserreich war eine
sehr eigenthümliche. Es giebt vielleicht keinen Staatsmann in Frankreich,
der für gewisse Seiten des napoleonischen Systems so lebhafte Sympathie
empfindet, wie er. In der napoleonischen Verwaltung sieht er, und mit
vollem Rechte, die Vollendung des schon von der französischen Monarchie
seit Jahrhunderten mit unvergleichlicher Zähigkeit entwickelten Centralisations¬
princips. Die Verwaltungsgrundsätze des ersten Kcnserthums haben in ihm
den begeistertsten Lobredner gefunden, und die Grundsätze Napoleon's III. wa¬
ren ja nur eine wenig modificirte Copie der Grundsätze des ersten Napoleon-
Auch in Betreff der äußeren Politik theilte Thiers die napoleonischen Macht,
tendenzen bis zu einem Grade, aber allerdings ließ ihn sein scharfer nüch¬
terner Verstand die Gefahren einer grundsätzlichen Eroberungspolitik klar er¬
kennen, und seine Bewunderung für Napoleon I. erstreckte sich keineswegs auf
die gigantischen Weltherrschaftspläne seines Helden; er stand in dieser Be¬
ziehung vielmehr auf dem Boden der Politik Ludwig's XIV.: die Ausdehnung
Frankreichs bis an seine "natürlichen Grenzen" und eine rastlose, intri-
guante diplomatische Einmischung , um die Nachbarländer im Zustande der
Ohnmacht zu erhalten und auf ihre politische ^Zersplitterung Frankreichs
Schiedsrichteramt zu begründen, das war sein Ideal der auswärtigen Politik,
und von diesem Standpunkt aus fiel es ihm nicht schwer, die bei aller be¬
rechnenden Schlauheit doch oft genug phantastische und abenteuernde Politik
Napoleon's III. einer vernichtenden Kritik zu unterziehen.

Was aber Thiers ganz besonders von Napoleon trennte, war die Vor¬
liebe des alten Staatsmannes für das parlamentarische System. Ueber die
Nothwendigkeit der schärfsten Verwaltungseentralisation, der unbedingtesten
Staatsallmacht dachten die beiden Rivalen -- Rivalen waren sie schon 1849
gewesen, und Thiers hat es Napoleon niemals verziehen, daß er sich von
ihm hatte dupiren lassen -- vollkommen gleich; aber Thiers war Anhänger


in den Hafen des cäsarischen Despotismus geflüchtet; das Plebiscit hatte die
Republikaner außer Besitz gesetzt und isolirt. Sie mußten den Anschluß an die
monarchischen Elemente der Opposition suchen; sie mußten auf dem Boden
des parlamentarischen Systems, gegen das wenigstens der radikale Theil der
Republikaner stets eine entschiedene Abneigung empfunden hatte. Stellung
nehmen. Im parlamentarischen Kampfe aber fanden sie an den ihnen jetzt
verbündeten Monarchisten der alten Schule Nebenbuhler, die ihnen entschieden
überlegen waren. Die Jules Favre, Simon, Piccard, Gambetta brauchte
Napoleon nicht zu fürchten: viel gefährlichere Feinde waren für sie die alten
Orleanisten, vor Allem Herr Thiers, dessen in der Form stets gemäßigten,
von allen radikalen Tendenzen sich fern haltenden Angriffe Napoleon mehr
Schaden zugefügt haben, als die heftigsten und pathetischsten Declamationen
der republikanischen Wortführer. Thiers' Stellung zum Kaiserreich war eine
sehr eigenthümliche. Es giebt vielleicht keinen Staatsmann in Frankreich,
der für gewisse Seiten des napoleonischen Systems so lebhafte Sympathie
empfindet, wie er. In der napoleonischen Verwaltung sieht er, und mit
vollem Rechte, die Vollendung des schon von der französischen Monarchie
seit Jahrhunderten mit unvergleichlicher Zähigkeit entwickelten Centralisations¬
princips. Die Verwaltungsgrundsätze des ersten Kcnserthums haben in ihm
den begeistertsten Lobredner gefunden, und die Grundsätze Napoleon's III. wa¬
ren ja nur eine wenig modificirte Copie der Grundsätze des ersten Napoleon-
Auch in Betreff der äußeren Politik theilte Thiers die napoleonischen Macht,
tendenzen bis zu einem Grade, aber allerdings ließ ihn sein scharfer nüch¬
terner Verstand die Gefahren einer grundsätzlichen Eroberungspolitik klar er¬
kennen, und seine Bewunderung für Napoleon I. erstreckte sich keineswegs auf
die gigantischen Weltherrschaftspläne seines Helden; er stand in dieser Be¬
ziehung vielmehr auf dem Boden der Politik Ludwig's XIV.: die Ausdehnung
Frankreichs bis an seine „natürlichen Grenzen" und eine rastlose, intri-
guante diplomatische Einmischung , um die Nachbarländer im Zustande der
Ohnmacht zu erhalten und auf ihre politische ^Zersplitterung Frankreichs
Schiedsrichteramt zu begründen, das war sein Ideal der auswärtigen Politik,
und von diesem Standpunkt aus fiel es ihm nicht schwer, die bei aller be¬
rechnenden Schlauheit doch oft genug phantastische und abenteuernde Politik
Napoleon's III. einer vernichtenden Kritik zu unterziehen.

Was aber Thiers ganz besonders von Napoleon trennte, war die Vor¬
liebe des alten Staatsmannes für das parlamentarische System. Ueber die
Nothwendigkeit der schärfsten Verwaltungseentralisation, der unbedingtesten
Staatsallmacht dachten die beiden Rivalen — Rivalen waren sie schon 1849
gewesen, und Thiers hat es Napoleon niemals verziehen, daß er sich von
ihm hatte dupiren lassen — vollkommen gleich; aber Thiers war Anhänger


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[0294] in den Hafen des cäsarischen Despotismus geflüchtet; das Plebiscit hatte die Republikaner außer Besitz gesetzt und isolirt. Sie mußten den Anschluß an die monarchischen Elemente der Opposition suchen; sie mußten auf dem Boden des parlamentarischen Systems, gegen das wenigstens der radikale Theil der Republikaner stets eine entschiedene Abneigung empfunden hatte. Stellung nehmen. Im parlamentarischen Kampfe aber fanden sie an den ihnen jetzt verbündeten Monarchisten der alten Schule Nebenbuhler, die ihnen entschieden überlegen waren. Die Jules Favre, Simon, Piccard, Gambetta brauchte Napoleon nicht zu fürchten: viel gefährlichere Feinde waren für sie die alten Orleanisten, vor Allem Herr Thiers, dessen in der Form stets gemäßigten, von allen radikalen Tendenzen sich fern haltenden Angriffe Napoleon mehr Schaden zugefügt haben, als die heftigsten und pathetischsten Declamationen der republikanischen Wortführer. Thiers' Stellung zum Kaiserreich war eine sehr eigenthümliche. Es giebt vielleicht keinen Staatsmann in Frankreich, der für gewisse Seiten des napoleonischen Systems so lebhafte Sympathie empfindet, wie er. In der napoleonischen Verwaltung sieht er, und mit vollem Rechte, die Vollendung des schon von der französischen Monarchie seit Jahrhunderten mit unvergleichlicher Zähigkeit entwickelten Centralisations¬ princips. Die Verwaltungsgrundsätze des ersten Kcnserthums haben in ihm den begeistertsten Lobredner gefunden, und die Grundsätze Napoleon's III. wa¬ ren ja nur eine wenig modificirte Copie der Grundsätze des ersten Napoleon- Auch in Betreff der äußeren Politik theilte Thiers die napoleonischen Macht, tendenzen bis zu einem Grade, aber allerdings ließ ihn sein scharfer nüch¬ terner Verstand die Gefahren einer grundsätzlichen Eroberungspolitik klar er¬ kennen, und seine Bewunderung für Napoleon I. erstreckte sich keineswegs auf die gigantischen Weltherrschaftspläne seines Helden; er stand in dieser Be¬ ziehung vielmehr auf dem Boden der Politik Ludwig's XIV.: die Ausdehnung Frankreichs bis an seine „natürlichen Grenzen" und eine rastlose, intri- guante diplomatische Einmischung , um die Nachbarländer im Zustande der Ohnmacht zu erhalten und auf ihre politische ^Zersplitterung Frankreichs Schiedsrichteramt zu begründen, das war sein Ideal der auswärtigen Politik, und von diesem Standpunkt aus fiel es ihm nicht schwer, die bei aller be¬ rechnenden Schlauheit doch oft genug phantastische und abenteuernde Politik Napoleon's III. einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Was aber Thiers ganz besonders von Napoleon trennte, war die Vor¬ liebe des alten Staatsmannes für das parlamentarische System. Ueber die Nothwendigkeit der schärfsten Verwaltungseentralisation, der unbedingtesten Staatsallmacht dachten die beiden Rivalen — Rivalen waren sie schon 1849 gewesen, und Thiers hat es Napoleon niemals verziehen, daß er sich von ihm hatte dupiren lassen — vollkommen gleich; aber Thiers war Anhänger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/294>, abgerufen am 25.08.2024.