Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

des Parlamentarismus und mußte es sein, da nur dies System seinem Ta¬
lente den seinem Ehrgeiz entsprechenden Wirkungskreis eröffnete und ihn in
den Stand setzte, eine leitende und selbständige Rolle zu spielen. Dabei war
er von jeher ein entschiedener Vertreter des Bourgeoisregimes und Gegner der
Demokratie gewesen; er galt daher während des Kaiserthums allgemein als
Orleanist, und, den Ausdruck in weiterem principiellen Sinne gebraucht, ist
er es auch noch jetzt, mag er sich auch von der Dynastie getrennt haben, und
in der "conservativen Republik" einen Ersatz für die konstitutionelle Monarchie
suchen, deren Wiederherstellung er für unmöglich hält.

Die orleanistische Opposition konnte den Anspruch erheben, das gebildete
und geistreiche Frankreich zu vertreten, und darin lag ihre Stärke. Die "Ge¬
sellschaft" frondirte gegen Napoleon III-, wie sie gegen Napoleon I. frondirt
hatte. Einer der Hauptheerde der frondirenden Opposition war die Akademie,
die durchaus ihr orleanistisches Gepräge bewahrte und für alles liebenswür¬
dige Entgegenkommen des Kaisers unempfänglich blieb. Sie bildete den
Mittelpunkt für die gelehrten literarischen Kreise, die es vortrefflich verstanden,
dem strengen Preßregime zum Trotze durch versteckte kleine Bosheiten und An¬
spielungen das Kaiserthum dem Spott und Hohne preiszugeben, ohne sich
einer andern Gefahr, als der kaiserlichen Ungnade auszusetzen. Was wollte
die Polizei mit einer Schrift anfangen, die, unter gelehrter Maske sich ver¬
steckend, die sittliche und politische Corruption unter den Juliern brandmarkte.
Jedermann wußte, daß die Autoren die Zustände der Gegenwart im Auge
hatten; man brauchte nur die Namen zu verändern, und alle Züge paßten
auf das kaiserliche Frankreich. Aber einschreiten konnte man gegen diese Art
von Pamphleten nicht, weil man nicht eingestehen durfte, daß man sich durch
die Schilderungen getroffen fühlte. Es ist unzweifelhaft, daß diese versteckte,
boshafte und dabei an den persönlichen Muth der Autoren durchaus keine
Anforderungen stellende Polemik sehr viel dazu beigetragen hat, den politischen
Charakter der Franzosen gründlich zu verderben, aber ebenso ist es unzweifel¬
haft, daß sie allen Versuchen des Kaiserthums, in der höheren und gebildeten
Gesellschaft Boden zu gewinnen, sehr wirksam entgegenarbeitete. Es nahmen
natürlich an dieser Opposition der gebildeten Classen auch viele Republikaner
Theil, aber ihre eigentlichen Leiter waren doch die politischen und literarischen
Notabilitäten der Julimonarchie; im Großen und Ganzen stand sie auf kon¬
stitutionell-monarchischen Standpunkt, d. h. sie war ihrem Wesen nach orlea-
nistisch. Wer die constitutionelle Monarchie erstrebte, konnte, wenn er nicht
ein ganz unklarer Kopf, wie Emil Ollivier war. nur den Grasen von Paris
ins Augen fassen, und da das höhere Bürgerthum, so weit es überhaupt po¬
litische Grundsätze hatte, meist dem parlamentarischen Königthum zugethan
war, so war es sehr natürlich, daß Napoleon in den Orleans seine bittersten


Grenzboten I. 1-874. 37

des Parlamentarismus und mußte es sein, da nur dies System seinem Ta¬
lente den seinem Ehrgeiz entsprechenden Wirkungskreis eröffnete und ihn in
den Stand setzte, eine leitende und selbständige Rolle zu spielen. Dabei war
er von jeher ein entschiedener Vertreter des Bourgeoisregimes und Gegner der
Demokratie gewesen; er galt daher während des Kaiserthums allgemein als
Orleanist, und, den Ausdruck in weiterem principiellen Sinne gebraucht, ist
er es auch noch jetzt, mag er sich auch von der Dynastie getrennt haben, und
in der „conservativen Republik" einen Ersatz für die konstitutionelle Monarchie
suchen, deren Wiederherstellung er für unmöglich hält.

Die orleanistische Opposition konnte den Anspruch erheben, das gebildete
und geistreiche Frankreich zu vertreten, und darin lag ihre Stärke. Die „Ge¬
sellschaft" frondirte gegen Napoleon III-, wie sie gegen Napoleon I. frondirt
hatte. Einer der Hauptheerde der frondirenden Opposition war die Akademie,
die durchaus ihr orleanistisches Gepräge bewahrte und für alles liebenswür¬
dige Entgegenkommen des Kaisers unempfänglich blieb. Sie bildete den
Mittelpunkt für die gelehrten literarischen Kreise, die es vortrefflich verstanden,
dem strengen Preßregime zum Trotze durch versteckte kleine Bosheiten und An¬
spielungen das Kaiserthum dem Spott und Hohne preiszugeben, ohne sich
einer andern Gefahr, als der kaiserlichen Ungnade auszusetzen. Was wollte
die Polizei mit einer Schrift anfangen, die, unter gelehrter Maske sich ver¬
steckend, die sittliche und politische Corruption unter den Juliern brandmarkte.
Jedermann wußte, daß die Autoren die Zustände der Gegenwart im Auge
hatten; man brauchte nur die Namen zu verändern, und alle Züge paßten
auf das kaiserliche Frankreich. Aber einschreiten konnte man gegen diese Art
von Pamphleten nicht, weil man nicht eingestehen durfte, daß man sich durch
die Schilderungen getroffen fühlte. Es ist unzweifelhaft, daß diese versteckte,
boshafte und dabei an den persönlichen Muth der Autoren durchaus keine
Anforderungen stellende Polemik sehr viel dazu beigetragen hat, den politischen
Charakter der Franzosen gründlich zu verderben, aber ebenso ist es unzweifel¬
haft, daß sie allen Versuchen des Kaiserthums, in der höheren und gebildeten
Gesellschaft Boden zu gewinnen, sehr wirksam entgegenarbeitete. Es nahmen
natürlich an dieser Opposition der gebildeten Classen auch viele Republikaner
Theil, aber ihre eigentlichen Leiter waren doch die politischen und literarischen
Notabilitäten der Julimonarchie; im Großen und Ganzen stand sie auf kon¬
stitutionell-monarchischen Standpunkt, d. h. sie war ihrem Wesen nach orlea-
nistisch. Wer die constitutionelle Monarchie erstrebte, konnte, wenn er nicht
ein ganz unklarer Kopf, wie Emil Ollivier war. nur den Grasen von Paris
ins Augen fassen, und da das höhere Bürgerthum, so weit es überhaupt po¬
litische Grundsätze hatte, meist dem parlamentarischen Königthum zugethan
war, so war es sehr natürlich, daß Napoleon in den Orleans seine bittersten


Grenzboten I. 1-874. 37
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130939"/>
          <p xml:id="ID_897" prev="#ID_896"> des Parlamentarismus und mußte es sein, da nur dies System seinem Ta¬<lb/>
lente den seinem Ehrgeiz entsprechenden Wirkungskreis eröffnete und ihn in<lb/>
den Stand setzte, eine leitende und selbständige Rolle zu spielen. Dabei war<lb/>
er von jeher ein entschiedener Vertreter des Bourgeoisregimes und Gegner der<lb/>
Demokratie gewesen; er galt daher während des Kaiserthums allgemein als<lb/>
Orleanist, und, den Ausdruck in weiterem principiellen Sinne gebraucht, ist<lb/>
er es auch noch jetzt, mag er sich auch von der Dynastie getrennt haben, und<lb/>
in der &#x201E;conservativen Republik" einen Ersatz für die konstitutionelle Monarchie<lb/>
suchen, deren Wiederherstellung er für unmöglich hält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_898" next="#ID_899"> Die orleanistische Opposition konnte den Anspruch erheben, das gebildete<lb/>
und geistreiche Frankreich zu vertreten, und darin lag ihre Stärke. Die &#x201E;Ge¬<lb/>
sellschaft" frondirte gegen Napoleon III-, wie sie gegen Napoleon I. frondirt<lb/>
hatte. Einer der Hauptheerde der frondirenden Opposition war die Akademie,<lb/>
die durchaus ihr orleanistisches Gepräge bewahrte und für alles liebenswür¬<lb/>
dige Entgegenkommen des Kaisers unempfänglich blieb. Sie bildete den<lb/>
Mittelpunkt für die gelehrten literarischen Kreise, die es vortrefflich verstanden,<lb/>
dem strengen Preßregime zum Trotze durch versteckte kleine Bosheiten und An¬<lb/>
spielungen das Kaiserthum dem Spott und Hohne preiszugeben, ohne sich<lb/>
einer andern Gefahr, als der kaiserlichen Ungnade auszusetzen. Was wollte<lb/>
die Polizei mit einer Schrift anfangen, die, unter gelehrter Maske sich ver¬<lb/>
steckend, die sittliche und politische Corruption unter den Juliern brandmarkte.<lb/>
Jedermann wußte, daß die Autoren die Zustände der Gegenwart im Auge<lb/>
hatten; man brauchte nur die Namen zu verändern, und alle Züge paßten<lb/>
auf das kaiserliche Frankreich. Aber einschreiten konnte man gegen diese Art<lb/>
von Pamphleten nicht, weil man nicht eingestehen durfte, daß man sich durch<lb/>
die Schilderungen getroffen fühlte. Es ist unzweifelhaft, daß diese versteckte,<lb/>
boshafte und dabei an den persönlichen Muth der Autoren durchaus keine<lb/>
Anforderungen stellende Polemik sehr viel dazu beigetragen hat, den politischen<lb/>
Charakter der Franzosen gründlich zu verderben, aber ebenso ist es unzweifel¬<lb/>
haft, daß sie allen Versuchen des Kaiserthums, in der höheren und gebildeten<lb/>
Gesellschaft Boden zu gewinnen, sehr wirksam entgegenarbeitete. Es nahmen<lb/>
natürlich an dieser Opposition der gebildeten Classen auch viele Republikaner<lb/>
Theil, aber ihre eigentlichen Leiter waren doch die politischen und literarischen<lb/>
Notabilitäten der Julimonarchie; im Großen und Ganzen stand sie auf kon¬<lb/>
stitutionell-monarchischen Standpunkt, d. h. sie war ihrem Wesen nach orlea-<lb/>
nistisch. Wer die constitutionelle Monarchie erstrebte, konnte, wenn er nicht<lb/>
ein ganz unklarer Kopf, wie Emil Ollivier war. nur den Grasen von Paris<lb/>
ins Augen fassen, und da das höhere Bürgerthum, so weit es überhaupt po¬<lb/>
litische Grundsätze hatte, meist dem parlamentarischen Königthum zugethan<lb/>
war, so war es sehr natürlich, daß Napoleon in den Orleans seine bittersten</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1-874. 37</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0295] des Parlamentarismus und mußte es sein, da nur dies System seinem Ta¬ lente den seinem Ehrgeiz entsprechenden Wirkungskreis eröffnete und ihn in den Stand setzte, eine leitende und selbständige Rolle zu spielen. Dabei war er von jeher ein entschiedener Vertreter des Bourgeoisregimes und Gegner der Demokratie gewesen; er galt daher während des Kaiserthums allgemein als Orleanist, und, den Ausdruck in weiterem principiellen Sinne gebraucht, ist er es auch noch jetzt, mag er sich auch von der Dynastie getrennt haben, und in der „conservativen Republik" einen Ersatz für die konstitutionelle Monarchie suchen, deren Wiederherstellung er für unmöglich hält. Die orleanistische Opposition konnte den Anspruch erheben, das gebildete und geistreiche Frankreich zu vertreten, und darin lag ihre Stärke. Die „Ge¬ sellschaft" frondirte gegen Napoleon III-, wie sie gegen Napoleon I. frondirt hatte. Einer der Hauptheerde der frondirenden Opposition war die Akademie, die durchaus ihr orleanistisches Gepräge bewahrte und für alles liebenswür¬ dige Entgegenkommen des Kaisers unempfänglich blieb. Sie bildete den Mittelpunkt für die gelehrten literarischen Kreise, die es vortrefflich verstanden, dem strengen Preßregime zum Trotze durch versteckte kleine Bosheiten und An¬ spielungen das Kaiserthum dem Spott und Hohne preiszugeben, ohne sich einer andern Gefahr, als der kaiserlichen Ungnade auszusetzen. Was wollte die Polizei mit einer Schrift anfangen, die, unter gelehrter Maske sich ver¬ steckend, die sittliche und politische Corruption unter den Juliern brandmarkte. Jedermann wußte, daß die Autoren die Zustände der Gegenwart im Auge hatten; man brauchte nur die Namen zu verändern, und alle Züge paßten auf das kaiserliche Frankreich. Aber einschreiten konnte man gegen diese Art von Pamphleten nicht, weil man nicht eingestehen durfte, daß man sich durch die Schilderungen getroffen fühlte. Es ist unzweifelhaft, daß diese versteckte, boshafte und dabei an den persönlichen Muth der Autoren durchaus keine Anforderungen stellende Polemik sehr viel dazu beigetragen hat, den politischen Charakter der Franzosen gründlich zu verderben, aber ebenso ist es unzweifel¬ haft, daß sie allen Versuchen des Kaiserthums, in der höheren und gebildeten Gesellschaft Boden zu gewinnen, sehr wirksam entgegenarbeitete. Es nahmen natürlich an dieser Opposition der gebildeten Classen auch viele Republikaner Theil, aber ihre eigentlichen Leiter waren doch die politischen und literarischen Notabilitäten der Julimonarchie; im Großen und Ganzen stand sie auf kon¬ stitutionell-monarchischen Standpunkt, d. h. sie war ihrem Wesen nach orlea- nistisch. Wer die constitutionelle Monarchie erstrebte, konnte, wenn er nicht ein ganz unklarer Kopf, wie Emil Ollivier war. nur den Grasen von Paris ins Augen fassen, und da das höhere Bürgerthum, so weit es überhaupt po¬ litische Grundsätze hatte, meist dem parlamentarischen Königthum zugethan war, so war es sehr natürlich, daß Napoleon in den Orleans seine bittersten Grenzboten I. 1-874. 37

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/295
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/295>, abgerufen am 26.12.2024.