Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schastswesen zu machen, ist ihm von Kindesbeinen an alle Individualität ab¬
gestreift, ist er ermahnt worden, jedes auffallende Hervortreten ängstlich zu
vermeiden. Mangel an Selbständigkeit, an Muth, Scheu vor Verantwort¬
lichkeit sind die nothwendigen Folgen solcher Erziehung. In guten Tagen
mögen sie sich weniger bemerkbar machen; bricht aber plötzlich über das Ge¬
meinwesen eine furchtbare Katastrophe herein, dann sind die Scenen von
Rath- und Kopflosigkeit, welche wir neuerdings oft genug mit angesehen, nur
zu erklärlich.

Dem Geist dieser Gesellschaft entspricht das Unterrichtswesen. Die
lichtvolle Darstellung, welche Hillebrand vor? demselben im zweiten Abschnitte
seines Buches gegeben, sei dem Leser ganz besonders empfohlen. Bekanntlich
Ist Frankreichs gesäumtes Schulwesen noch immer in jenem ungeheuren Ap¬
parate centralisirt, welchen der erste Napoleon unter dem Namen der "Um-
versitiz as l?ra,liee" geschaffen hat. An der Spitze des ganzen Organismus
steht der Minister des Unterrichts, im Uebrigen ist er in 16, das Schulwe-
wesen von je vier bis fünf Departements umfassende "Akademien" eingetheilt;
jede Academie hat an ihrer Spitze einen "Rector", dem ein "Unterrichtsrath"
zur Seite steht. Das ganze Unterrichtswesen zerfällt in drei Grade: Primär-,
secundär- und höherer Unterricht, entsprechend den deutschen Volksschulen,
Gymnasien und Universitäten. Was den Primärunterricht betrifft, so ist der
Schulzwang bekanntlich bisher nicht eingeführt. Seit dem letzten Kriege hat
die liberale Presse denselben freilich unablässig gefordert; aber wenn schon
der von dem freisinnigen Unterrichtsminister Simon seiner Zeit vorgelegte
Reformentwurf hinter dieser Forderung wesentlich zurückblieb, so muß unter
der heutigen klerikalen Regierung natürlich alle Hoffnung schwinden, um so
mehr, als die entschieden freisinnigen Parteien neben dem Schulzwang und
der Unentgeltlichkeit des Unterrichts ebenso laut die Ertheilung desselben
ausschließlich durch Laien verlangen. Bisher liegt nämlich der Volksunter¬
richt zum größten Theil in den Händen von geistlichen sog. Schulbrüdern
und Schulschwestern. Sie mit einem Federzuge zu beseitigen, geht schon aus
dem einfachen Umstände nicht an, weil es unmöglich ist, 40,000 weltliche Bolks-
schullehrer aus dem Boden zu stampfen. Außerdem wird sich die dermalen
herrschende Partei in diesem Punkte überhaupt zu keinerlei Concessionen ver¬
stehen.

Nicht viel erbaulicher ist der Anblick des Seeundarschulwesens, welches
die eolIvML (Progymnasien) und die Ixe6(!" (Gymnasien) umfaßt. Zwar herrscht
in denselben eine perfecte Routine, aber auch nur diese. Weder der Lehrer
unterrichtet, noch der Schüler lernt aus Liebe zur Wissenschaft. Alles ist auf
bloße Abrichtung zu einem ganz bestimmten Zweck, wäre es auch nur zu der
alljährlichen Preisvertheilung abgesehen. Die Erziehung läuft durchaus aus


schastswesen zu machen, ist ihm von Kindesbeinen an alle Individualität ab¬
gestreift, ist er ermahnt worden, jedes auffallende Hervortreten ängstlich zu
vermeiden. Mangel an Selbständigkeit, an Muth, Scheu vor Verantwort¬
lichkeit sind die nothwendigen Folgen solcher Erziehung. In guten Tagen
mögen sie sich weniger bemerkbar machen; bricht aber plötzlich über das Ge¬
meinwesen eine furchtbare Katastrophe herein, dann sind die Scenen von
Rath- und Kopflosigkeit, welche wir neuerdings oft genug mit angesehen, nur
zu erklärlich.

Dem Geist dieser Gesellschaft entspricht das Unterrichtswesen. Die
lichtvolle Darstellung, welche Hillebrand vor? demselben im zweiten Abschnitte
seines Buches gegeben, sei dem Leser ganz besonders empfohlen. Bekanntlich
Ist Frankreichs gesäumtes Schulwesen noch immer in jenem ungeheuren Ap¬
parate centralisirt, welchen der erste Napoleon unter dem Namen der „Um-
versitiz as l?ra,liee" geschaffen hat. An der Spitze des ganzen Organismus
steht der Minister des Unterrichts, im Uebrigen ist er in 16, das Schulwe-
wesen von je vier bis fünf Departements umfassende „Akademien" eingetheilt;
jede Academie hat an ihrer Spitze einen „Rector", dem ein „Unterrichtsrath"
zur Seite steht. Das ganze Unterrichtswesen zerfällt in drei Grade: Primär-,
secundär- und höherer Unterricht, entsprechend den deutschen Volksschulen,
Gymnasien und Universitäten. Was den Primärunterricht betrifft, so ist der
Schulzwang bekanntlich bisher nicht eingeführt. Seit dem letzten Kriege hat
die liberale Presse denselben freilich unablässig gefordert; aber wenn schon
der von dem freisinnigen Unterrichtsminister Simon seiner Zeit vorgelegte
Reformentwurf hinter dieser Forderung wesentlich zurückblieb, so muß unter
der heutigen klerikalen Regierung natürlich alle Hoffnung schwinden, um so
mehr, als die entschieden freisinnigen Parteien neben dem Schulzwang und
der Unentgeltlichkeit des Unterrichts ebenso laut die Ertheilung desselben
ausschließlich durch Laien verlangen. Bisher liegt nämlich der Volksunter¬
richt zum größten Theil in den Händen von geistlichen sog. Schulbrüdern
und Schulschwestern. Sie mit einem Federzuge zu beseitigen, geht schon aus
dem einfachen Umstände nicht an, weil es unmöglich ist, 40,000 weltliche Bolks-
schullehrer aus dem Boden zu stampfen. Außerdem wird sich die dermalen
herrschende Partei in diesem Punkte überhaupt zu keinerlei Concessionen ver¬
stehen.

Nicht viel erbaulicher ist der Anblick des Seeundarschulwesens, welches
die eolIvML (Progymnasien) und die Ixe6(!« (Gymnasien) umfaßt. Zwar herrscht
in denselben eine perfecte Routine, aber auch nur diese. Weder der Lehrer
unterrichtet, noch der Schüler lernt aus Liebe zur Wissenschaft. Alles ist auf
bloße Abrichtung zu einem ganz bestimmten Zweck, wäre es auch nur zu der
alljährlichen Preisvertheilung abgesehen. Die Erziehung läuft durchaus aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192862"/>
          <p xml:id="ID_153" prev="#ID_152"> schastswesen zu machen, ist ihm von Kindesbeinen an alle Individualität ab¬<lb/>
gestreift, ist er ermahnt worden, jedes auffallende Hervortreten ängstlich zu<lb/>
vermeiden. Mangel an Selbständigkeit, an Muth, Scheu vor Verantwort¬<lb/>
lichkeit sind die nothwendigen Folgen solcher Erziehung. In guten Tagen<lb/>
mögen sie sich weniger bemerkbar machen; bricht aber plötzlich über das Ge¬<lb/>
meinwesen eine furchtbare Katastrophe herein, dann sind die Scenen von<lb/>
Rath- und Kopflosigkeit, welche wir neuerdings oft genug mit angesehen, nur<lb/>
zu erklärlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_154"> Dem Geist dieser Gesellschaft entspricht das Unterrichtswesen. Die<lb/>
lichtvolle Darstellung, welche Hillebrand vor? demselben im zweiten Abschnitte<lb/>
seines Buches gegeben, sei dem Leser ganz besonders empfohlen. Bekanntlich<lb/>
Ist Frankreichs gesäumtes Schulwesen noch immer in jenem ungeheuren Ap¬<lb/>
parate centralisirt, welchen der erste Napoleon unter dem Namen der &#x201E;Um-<lb/>
versitiz as l?ra,liee" geschaffen hat. An der Spitze des ganzen Organismus<lb/>
steht der Minister des Unterrichts, im Uebrigen ist er in 16, das Schulwe-<lb/>
wesen von je vier bis fünf Departements umfassende &#x201E;Akademien" eingetheilt;<lb/>
jede Academie hat an ihrer Spitze einen &#x201E;Rector", dem ein &#x201E;Unterrichtsrath"<lb/>
zur Seite steht. Das ganze Unterrichtswesen zerfällt in drei Grade: Primär-,<lb/>
secundär- und höherer Unterricht, entsprechend den deutschen Volksschulen,<lb/>
Gymnasien und Universitäten. Was den Primärunterricht betrifft, so ist der<lb/>
Schulzwang bekanntlich bisher nicht eingeführt. Seit dem letzten Kriege hat<lb/>
die liberale Presse denselben freilich unablässig gefordert; aber wenn schon<lb/>
der von dem freisinnigen Unterrichtsminister Simon seiner Zeit vorgelegte<lb/>
Reformentwurf hinter dieser Forderung wesentlich zurückblieb, so muß unter<lb/>
der heutigen klerikalen Regierung natürlich alle Hoffnung schwinden, um so<lb/>
mehr, als die entschieden freisinnigen Parteien neben dem Schulzwang und<lb/>
der Unentgeltlichkeit des Unterrichts ebenso laut die Ertheilung desselben<lb/>
ausschließlich durch Laien verlangen. Bisher liegt nämlich der Volksunter¬<lb/>
richt zum größten Theil in den Händen von geistlichen sog. Schulbrüdern<lb/>
und Schulschwestern. Sie mit einem Federzuge zu beseitigen, geht schon aus<lb/>
dem einfachen Umstände nicht an, weil es unmöglich ist, 40,000 weltliche Bolks-<lb/>
schullehrer aus dem Boden zu stampfen. Außerdem wird sich die dermalen<lb/>
herrschende Partei in diesem Punkte überhaupt zu keinerlei Concessionen ver¬<lb/>
stehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_155" next="#ID_156"> Nicht viel erbaulicher ist der Anblick des Seeundarschulwesens, welches<lb/>
die eolIvML (Progymnasien) und die Ixe6(!« (Gymnasien) umfaßt. Zwar herrscht<lb/>
in denselben eine perfecte Routine, aber auch nur diese. Weder der Lehrer<lb/>
unterrichtet, noch der Schüler lernt aus Liebe zur Wissenschaft. Alles ist auf<lb/>
bloße Abrichtung zu einem ganz bestimmten Zweck, wäre es auch nur zu der<lb/>
alljährlichen Preisvertheilung abgesehen. Die Erziehung läuft durchaus aus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0059] schastswesen zu machen, ist ihm von Kindesbeinen an alle Individualität ab¬ gestreift, ist er ermahnt worden, jedes auffallende Hervortreten ängstlich zu vermeiden. Mangel an Selbständigkeit, an Muth, Scheu vor Verantwort¬ lichkeit sind die nothwendigen Folgen solcher Erziehung. In guten Tagen mögen sie sich weniger bemerkbar machen; bricht aber plötzlich über das Ge¬ meinwesen eine furchtbare Katastrophe herein, dann sind die Scenen von Rath- und Kopflosigkeit, welche wir neuerdings oft genug mit angesehen, nur zu erklärlich. Dem Geist dieser Gesellschaft entspricht das Unterrichtswesen. Die lichtvolle Darstellung, welche Hillebrand vor? demselben im zweiten Abschnitte seines Buches gegeben, sei dem Leser ganz besonders empfohlen. Bekanntlich Ist Frankreichs gesäumtes Schulwesen noch immer in jenem ungeheuren Ap¬ parate centralisirt, welchen der erste Napoleon unter dem Namen der „Um- versitiz as l?ra,liee" geschaffen hat. An der Spitze des ganzen Organismus steht der Minister des Unterrichts, im Uebrigen ist er in 16, das Schulwe- wesen von je vier bis fünf Departements umfassende „Akademien" eingetheilt; jede Academie hat an ihrer Spitze einen „Rector", dem ein „Unterrichtsrath" zur Seite steht. Das ganze Unterrichtswesen zerfällt in drei Grade: Primär-, secundär- und höherer Unterricht, entsprechend den deutschen Volksschulen, Gymnasien und Universitäten. Was den Primärunterricht betrifft, so ist der Schulzwang bekanntlich bisher nicht eingeführt. Seit dem letzten Kriege hat die liberale Presse denselben freilich unablässig gefordert; aber wenn schon der von dem freisinnigen Unterrichtsminister Simon seiner Zeit vorgelegte Reformentwurf hinter dieser Forderung wesentlich zurückblieb, so muß unter der heutigen klerikalen Regierung natürlich alle Hoffnung schwinden, um so mehr, als die entschieden freisinnigen Parteien neben dem Schulzwang und der Unentgeltlichkeit des Unterrichts ebenso laut die Ertheilung desselben ausschließlich durch Laien verlangen. Bisher liegt nämlich der Volksunter¬ richt zum größten Theil in den Händen von geistlichen sog. Schulbrüdern und Schulschwestern. Sie mit einem Federzuge zu beseitigen, geht schon aus dem einfachen Umstände nicht an, weil es unmöglich ist, 40,000 weltliche Bolks- schullehrer aus dem Boden zu stampfen. Außerdem wird sich die dermalen herrschende Partei in diesem Punkte überhaupt zu keinerlei Concessionen ver¬ stehen. Nicht viel erbaulicher ist der Anblick des Seeundarschulwesens, welches die eolIvML (Progymnasien) und die Ixe6(!« (Gymnasien) umfaßt. Zwar herrscht in denselben eine perfecte Routine, aber auch nur diese. Weder der Lehrer unterrichtet, noch der Schüler lernt aus Liebe zur Wissenschaft. Alles ist auf bloße Abrichtung zu einem ganz bestimmten Zweck, wäre es auch nur zu der alljährlichen Preisvertheilung abgesehen. Die Erziehung läuft durchaus aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/59
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/59>, abgerufen am 06.02.2025.