Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihr ganzes Dichten und Trachten geht dahin, durch Fleiß und Sparsamkeit
ihnen eine angenehme Zukunft zu bereiten. Und die Kinder wiederum hän¬
gen meist mit wahrer Liebe an den Eltern; bis in die entferntesten Ver¬
wandtschaftsgrade dauert der Zusammenhalt der Familie. Hauptperson im
Hause, wie im französischen Leben überhaupt, ist die Frau. Auch ihr, ja
ihr vielleicht am meisten, thut unser Vorurtheil Unrecht. Wir meinen, in
der deutschen Hausfrau das unübertreffliche Ideal ihrer Species zu besitzen
und sind ein wenig geneigt, die Gebieterin des französischen Hauses gradezu
für die Kehrseite der Medaille zu halten. Dagegen versichert uns Hillebrand:
"Es gibt keine trefflicheren Haushälterinnen als die Französinnen, die, ohne
mit der Haushalterei auf deutsche Weise zu prahlen, den Hausstand mit um¬
sichtiger Hand zu leiten wissen." Darin eben liegt die Hauptstärke der Fran¬
zösinnen, daß sie ihre Vorzüge, von den größten bis zu den kleinsten, gleich¬
sam unmerklich, als etwas Selbstverständliches zur Geltung zu bringen
wissen. In Wahrheit freilich ist jede Wirkung aufs genaueste berechnet; aber
da ist kein ungeschicktes Sichbrüsten, kein ostentatives Zurschautragen. das"
wenn auch noch so leise empfunden, dem Beobachter die gute Laune verdirbt,
nein, es ist das anmuthige Spiel der tausend Mittelchen jener Kunst, welche
der Franzose mit dem unübersetzbaren Worte eoHuettkrie bezeichnet, eine Kunst,
die den Beobachter mit dem Gefühl des Behagens zu umstricken versteht. Und
wie die Frau, so die ganze französische Gesellschaft. Die von Allen, welche
sie genossen, als so wohlthuend gepriesene Atmosphäre derselben, erzeugt durch
den überall herrschenden Takt, die zuvorkommende Höflichkeit, auch wohl eine
geschickte niemals verletzende Schmeichelei, sie beruht ebenfalls durchaus auf
Berechnung. "Die ganze französische Geselligkeit", sagt unser Verfasser, "ist
im Grunde eine gegenseitige Eitelkeitsversicherungsgesellschast." Kurz, die Or¬
ganisation der französischen Gesellschaft ist durchweg ein Product des reflek-
tirenden Verstandes. Eine Heirath aus Liebe ist dem modernen Franzosen
ein Unding, die Ehe ist das Resultat praktischer Berechnung. Eine ausschlie߬
lich auf der eigenen Ueberzeugung beruhende Sittlichkeit ist ihm ein unfa߬
barer Begriff, seine Handlungsweise richtet sich nach einer durch stillschwei¬
gende Übereinkunft gemachten Moral. Die Convention ist allmächtig.
Ihrem Zwange gehorchend, ist alles bestrebt, an Stelle der rauhen Wirklich¬
keit eine Welt des schönen Scheins zu setzen. Des Deutschen derbe Wahr¬
heitsliebe freilich mag sich empören über solch raffinirten Rationalismus.
Der Franzose hat für diese Entrüstung absolut kein Verständniß: er be¬
trachtet die Dinge nicht unter dem Gesichtspunkte der Moralität, sondern der
Utilität. Weil sie ihm nützlich ist. darum achtet er die gesellschaftliche Con¬
vention. Aber freilich, es gibt eine Grenze, wo diese Nützlichkeit in Ber-
derblichkeit umschlägt. Um den Menschen zum denkbar vollendetsten Gesell-


ihr ganzes Dichten und Trachten geht dahin, durch Fleiß und Sparsamkeit
ihnen eine angenehme Zukunft zu bereiten. Und die Kinder wiederum hän¬
gen meist mit wahrer Liebe an den Eltern; bis in die entferntesten Ver¬
wandtschaftsgrade dauert der Zusammenhalt der Familie. Hauptperson im
Hause, wie im französischen Leben überhaupt, ist die Frau. Auch ihr, ja
ihr vielleicht am meisten, thut unser Vorurtheil Unrecht. Wir meinen, in
der deutschen Hausfrau das unübertreffliche Ideal ihrer Species zu besitzen
und sind ein wenig geneigt, die Gebieterin des französischen Hauses gradezu
für die Kehrseite der Medaille zu halten. Dagegen versichert uns Hillebrand:
„Es gibt keine trefflicheren Haushälterinnen als die Französinnen, die, ohne
mit der Haushalterei auf deutsche Weise zu prahlen, den Hausstand mit um¬
sichtiger Hand zu leiten wissen." Darin eben liegt die Hauptstärke der Fran¬
zösinnen, daß sie ihre Vorzüge, von den größten bis zu den kleinsten, gleich¬
sam unmerklich, als etwas Selbstverständliches zur Geltung zu bringen
wissen. In Wahrheit freilich ist jede Wirkung aufs genaueste berechnet; aber
da ist kein ungeschicktes Sichbrüsten, kein ostentatives Zurschautragen. das»
wenn auch noch so leise empfunden, dem Beobachter die gute Laune verdirbt,
nein, es ist das anmuthige Spiel der tausend Mittelchen jener Kunst, welche
der Franzose mit dem unübersetzbaren Worte eoHuettkrie bezeichnet, eine Kunst,
die den Beobachter mit dem Gefühl des Behagens zu umstricken versteht. Und
wie die Frau, so die ganze französische Gesellschaft. Die von Allen, welche
sie genossen, als so wohlthuend gepriesene Atmosphäre derselben, erzeugt durch
den überall herrschenden Takt, die zuvorkommende Höflichkeit, auch wohl eine
geschickte niemals verletzende Schmeichelei, sie beruht ebenfalls durchaus auf
Berechnung. „Die ganze französische Geselligkeit", sagt unser Verfasser, „ist
im Grunde eine gegenseitige Eitelkeitsversicherungsgesellschast." Kurz, die Or¬
ganisation der französischen Gesellschaft ist durchweg ein Product des reflek-
tirenden Verstandes. Eine Heirath aus Liebe ist dem modernen Franzosen
ein Unding, die Ehe ist das Resultat praktischer Berechnung. Eine ausschlie߬
lich auf der eigenen Ueberzeugung beruhende Sittlichkeit ist ihm ein unfa߬
barer Begriff, seine Handlungsweise richtet sich nach einer durch stillschwei¬
gende Übereinkunft gemachten Moral. Die Convention ist allmächtig.
Ihrem Zwange gehorchend, ist alles bestrebt, an Stelle der rauhen Wirklich¬
keit eine Welt des schönen Scheins zu setzen. Des Deutschen derbe Wahr¬
heitsliebe freilich mag sich empören über solch raffinirten Rationalismus.
Der Franzose hat für diese Entrüstung absolut kein Verständniß: er be¬
trachtet die Dinge nicht unter dem Gesichtspunkte der Moralität, sondern der
Utilität. Weil sie ihm nützlich ist. darum achtet er die gesellschaftliche Con¬
vention. Aber freilich, es gibt eine Grenze, wo diese Nützlichkeit in Ber-
derblichkeit umschlägt. Um den Menschen zum denkbar vollendetsten Gesell-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192861"/>
          <p xml:id="ID_152" prev="#ID_151" next="#ID_153"> ihr ganzes Dichten und Trachten geht dahin, durch Fleiß und Sparsamkeit<lb/>
ihnen eine angenehme Zukunft zu bereiten. Und die Kinder wiederum hän¬<lb/>
gen meist mit wahrer Liebe an den Eltern; bis in die entferntesten Ver¬<lb/>
wandtschaftsgrade dauert der Zusammenhalt der Familie. Hauptperson im<lb/>
Hause, wie im französischen Leben überhaupt, ist die Frau. Auch ihr, ja<lb/>
ihr vielleicht am meisten, thut unser Vorurtheil Unrecht. Wir meinen, in<lb/>
der deutschen Hausfrau das unübertreffliche Ideal ihrer Species zu besitzen<lb/>
und sind ein wenig geneigt, die Gebieterin des französischen Hauses gradezu<lb/>
für die Kehrseite der Medaille zu halten. Dagegen versichert uns Hillebrand:<lb/>
&#x201E;Es gibt keine trefflicheren Haushälterinnen als die Französinnen, die, ohne<lb/>
mit der Haushalterei auf deutsche Weise zu prahlen, den Hausstand mit um¬<lb/>
sichtiger Hand zu leiten wissen." Darin eben liegt die Hauptstärke der Fran¬<lb/>
zösinnen, daß sie ihre Vorzüge, von den größten bis zu den kleinsten, gleich¬<lb/>
sam unmerklich, als etwas Selbstverständliches zur Geltung zu bringen<lb/>
wissen. In Wahrheit freilich ist jede Wirkung aufs genaueste berechnet; aber<lb/>
da ist kein ungeschicktes Sichbrüsten, kein ostentatives Zurschautragen. das»<lb/>
wenn auch noch so leise empfunden, dem Beobachter die gute Laune verdirbt,<lb/>
nein, es ist das anmuthige Spiel der tausend Mittelchen jener Kunst, welche<lb/>
der Franzose mit dem unübersetzbaren Worte eoHuettkrie bezeichnet, eine Kunst,<lb/>
die den Beobachter mit dem Gefühl des Behagens zu umstricken versteht. Und<lb/>
wie die Frau, so die ganze französische Gesellschaft. Die von Allen, welche<lb/>
sie genossen, als so wohlthuend gepriesene Atmosphäre derselben, erzeugt durch<lb/>
den überall herrschenden Takt, die zuvorkommende Höflichkeit, auch wohl eine<lb/>
geschickte niemals verletzende Schmeichelei, sie beruht ebenfalls durchaus auf<lb/>
Berechnung. &#x201E;Die ganze französische Geselligkeit", sagt unser Verfasser, &#x201E;ist<lb/>
im Grunde eine gegenseitige Eitelkeitsversicherungsgesellschast." Kurz, die Or¬<lb/>
ganisation der französischen Gesellschaft ist durchweg ein Product des reflek-<lb/>
tirenden Verstandes. Eine Heirath aus Liebe ist dem modernen Franzosen<lb/>
ein Unding, die Ehe ist das Resultat praktischer Berechnung. Eine ausschlie߬<lb/>
lich auf der eigenen Ueberzeugung beruhende Sittlichkeit ist ihm ein unfa߬<lb/>
barer Begriff, seine Handlungsweise richtet sich nach einer durch stillschwei¬<lb/>
gende Übereinkunft gemachten Moral. Die Convention ist allmächtig.<lb/>
Ihrem Zwange gehorchend, ist alles bestrebt, an Stelle der rauhen Wirklich¬<lb/>
keit eine Welt des schönen Scheins zu setzen. Des Deutschen derbe Wahr¬<lb/>
heitsliebe freilich mag sich empören über solch raffinirten Rationalismus.<lb/>
Der Franzose hat für diese Entrüstung absolut kein Verständniß: er be¬<lb/>
trachtet die Dinge nicht unter dem Gesichtspunkte der Moralität, sondern der<lb/>
Utilität. Weil sie ihm nützlich ist. darum achtet er die gesellschaftliche Con¬<lb/>
vention. Aber freilich, es gibt eine Grenze, wo diese Nützlichkeit in Ber-<lb/>
derblichkeit umschlägt. Um den Menschen zum denkbar vollendetsten Gesell-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0058] ihr ganzes Dichten und Trachten geht dahin, durch Fleiß und Sparsamkeit ihnen eine angenehme Zukunft zu bereiten. Und die Kinder wiederum hän¬ gen meist mit wahrer Liebe an den Eltern; bis in die entferntesten Ver¬ wandtschaftsgrade dauert der Zusammenhalt der Familie. Hauptperson im Hause, wie im französischen Leben überhaupt, ist die Frau. Auch ihr, ja ihr vielleicht am meisten, thut unser Vorurtheil Unrecht. Wir meinen, in der deutschen Hausfrau das unübertreffliche Ideal ihrer Species zu besitzen und sind ein wenig geneigt, die Gebieterin des französischen Hauses gradezu für die Kehrseite der Medaille zu halten. Dagegen versichert uns Hillebrand: „Es gibt keine trefflicheren Haushälterinnen als die Französinnen, die, ohne mit der Haushalterei auf deutsche Weise zu prahlen, den Hausstand mit um¬ sichtiger Hand zu leiten wissen." Darin eben liegt die Hauptstärke der Fran¬ zösinnen, daß sie ihre Vorzüge, von den größten bis zu den kleinsten, gleich¬ sam unmerklich, als etwas Selbstverständliches zur Geltung zu bringen wissen. In Wahrheit freilich ist jede Wirkung aufs genaueste berechnet; aber da ist kein ungeschicktes Sichbrüsten, kein ostentatives Zurschautragen. das» wenn auch noch so leise empfunden, dem Beobachter die gute Laune verdirbt, nein, es ist das anmuthige Spiel der tausend Mittelchen jener Kunst, welche der Franzose mit dem unübersetzbaren Worte eoHuettkrie bezeichnet, eine Kunst, die den Beobachter mit dem Gefühl des Behagens zu umstricken versteht. Und wie die Frau, so die ganze französische Gesellschaft. Die von Allen, welche sie genossen, als so wohlthuend gepriesene Atmosphäre derselben, erzeugt durch den überall herrschenden Takt, die zuvorkommende Höflichkeit, auch wohl eine geschickte niemals verletzende Schmeichelei, sie beruht ebenfalls durchaus auf Berechnung. „Die ganze französische Geselligkeit", sagt unser Verfasser, „ist im Grunde eine gegenseitige Eitelkeitsversicherungsgesellschast." Kurz, die Or¬ ganisation der französischen Gesellschaft ist durchweg ein Product des reflek- tirenden Verstandes. Eine Heirath aus Liebe ist dem modernen Franzosen ein Unding, die Ehe ist das Resultat praktischer Berechnung. Eine ausschlie߬ lich auf der eigenen Ueberzeugung beruhende Sittlichkeit ist ihm ein unfa߬ barer Begriff, seine Handlungsweise richtet sich nach einer durch stillschwei¬ gende Übereinkunft gemachten Moral. Die Convention ist allmächtig. Ihrem Zwange gehorchend, ist alles bestrebt, an Stelle der rauhen Wirklich¬ keit eine Welt des schönen Scheins zu setzen. Des Deutschen derbe Wahr¬ heitsliebe freilich mag sich empören über solch raffinirten Rationalismus. Der Franzose hat für diese Entrüstung absolut kein Verständniß: er be¬ trachtet die Dinge nicht unter dem Gesichtspunkte der Moralität, sondern der Utilität. Weil sie ihm nützlich ist. darum achtet er die gesellschaftliche Con¬ vention. Aber freilich, es gibt eine Grenze, wo diese Nützlichkeit in Ber- derblichkeit umschlägt. Um den Menschen zum denkbar vollendetsten Gesell-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/58
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/58>, abgerufen am 06.02.2025.